Als der Tramp zu Tränen rührte
Vor 100 Jahren kam „The Kid“in die Kinos. Mit seiner ersten Komödie in Spielfilmlänge bewies Charlie Chaplin, dass witzige und melodramatische Szenen zusammen ein Meisterwerk ergeben können. Ein Stil, der auch seine weiteren Werke prägen sollte.
Es bedurfte 1921 dazu noch eines einführenden Zwischentitels: „A picture with a smile – and perhaps, a tear“. Ein Film also, der den Zuschauer zum Lächeln bringt, ihm vielleicht aber auch die ein oder andere Träne entlockt. Das war damals ungewohnt für all jene, die sich jede Woche auf die kurzen Kino-Komödien mit Charlie Chaplin, Buster Keaton, Harold Lloyd und ihren Kollegen freuten. Der Schritt schien gewagt: Würde das Publikum die ungewohnte Genre-Vermischung akzeptieren? Allein schon das Format – über eine Stunde – entsprach nicht dem, was man von den gängigen Slapstick-Filmen erwartete.
Mit „The Kid“betrat Charlie Chaplin Neuland. Ein Anfänger war er damals aber nicht mehr. 1889 im spätviktorianischen London geboren, trat er bereits als Kind auf den Szenen des britischen Music-Halls auf. Es war eine harte künstlerische Schule, die ihn zum perfektionistischen Profi machte. Von diesen Erfahrungen zehrte er, als er 1914 als Komödiant in Hollywood begann. Zunächst bei Mack Sennetts Keystone unter Vertrag, trat er in zahlreichen der wild-anarchischen Hau-drauf-Komödien auf, für die das Studio stilbildend war. Auf seinen Kindheitserinnerungen basierend, schuf er dort auch die Figur, die ihn berühmt machte: den „Tramp“. Ein zu enger Gehrock, eine viel zu weite Hose, übergroße Schuhe mit Löchern in den Sohlen, ein Bowler-Hut, dazu ein Bürstenbärtchen. Er ist ein Vagabund mit Gentleman-Allüren, egoistisch, da er um sein materielles Überleben kämpfen muss, und doch im Grunde großherzig und sentimental.
Auch wenn Chaplin zwischendurch andere Figuren verkörperte, war es dieser Tramp, der schnell zum Publikumsliebling avancierte. Mit 25 Jahren begann für den Exil-Briten der Aufstieg zu einem der ersten Filmstars überhaupt. Wie vielen Komikern ging es ihm auch darum, die künstlerische Kontrolle über seine Filme zu erhalten, indem er selbst das Buch schrieb und Regie führte. Dazu wechselte er mehrmals die Produktionsgesellschaft. Seit 1918 drehte er als Produzent im eigenen Studio für den Verleih der First National, einem Zusammenschluss von Kinoketten.
Sein künstlerischer Ehrgeiz führte unter anderem dazu, dass die meisten seiner Filme länger wurden. Komödien waren in den Anfangsjahren ausschließlich Ein- oder Zwei-Akter1, die weniger als eine halbe Stunde dauerten. In einer Zeit, als das Kino den Ruf der Jahrmarktsunterhaltung hinter sich gelassen hatte, und aus mehreren Programmteilen bestehende Filmvorführungen sich durchsetzten, wurden die „lustigen Filme“zum Beiprogramm, während der – längere – Hauptfilm („Feature“genannt) dramatischen oder melodramatischen Erzählungen vorbehalten war.
Zwei von Chaplins berühmtesten „Kurzfilmen“, „A Dog’s Life“und die Kriegskomödie „Shoulder Arms“(beide 1918), umfassten bereits drei Akte. Damit schien eine Grenze erreicht. Doch die Geschichte, die er im Sommer 1919 zu entwickeln begann, verlangte mehr, wenn sie ihr Potenzial voll entfalten sollte. Der Beginn der Arbeit fiel in eine schwierige Phase für den Künstler: Am 7. Juli 1919 hatte seine junge Frau Mildred Harris einen missgebildeten Jungen zur Welt gebracht, der wenige Tage später starb.2
Chaplin litt schwer an diesem Verlust, doch kann man nur darüber spekulieren, ob es die Story des neuen Projekts, das ursprünglich „The Waif“(also: Das Straßenkind) hieß, wesentlich beeinflusst hat. Eine vermutlich wichtigere Rolle spielte seine Begegnung mit jenem kleinen Jungen, der in der Rolle des „Kid“den Film mitprägen sollte. Auf der Bühne des „Orpheum“in Los Angeles hatte Chaplin den kleinen Jackie Coogan entdeckt, der mit seinem Vater in einer Tanznummer auftrat und das Publikum durch sein Imitationstalent begeisterte. So auch Chaplin, der sich an seine eigenen Auftritte als Kind in den Londoner Varietétheatern erinnerte.
Kurz danach bot sich ihm die Gelegenheit, den begabten Vierjährigen näher kennen zu lernen, als er den Coogans in einer Hotellobby begegnete. Fast zwei Stunden soll er spielend mit Jackie auf dem Teppich verbracht haben, erinnerte sich später die Mutter des Jungen. Ein Missverständnis hätte dann fast dafür gesorgt, dass es nicht zu einer weiteren Zusammenarbeit der beiden kam. Chaplin wurde nämlich zugetragen, dass sein Konkurrent Roscoe „Fatty“Arbuckle den Komiker Jack Coogan engagiert hätte. Es stellte sich glücklicherweise heraus, dass es sich nicht um den Sohn, sondern um seinen gleichnamigen Vater handelte. Ein Einvernehmen mit diesem war schnell gefunden: „Natürlich können sie den kleinen Bengel haben“, soll er Chaplin gesagt haben.
Dieser stürzte sich sofort in sein Vorhaben und arbeitete im August und September 1919 mit großem Elan an seinem neuen Projekt. In Jackie Coogan hatte er einen Partner gefunden, der weit mehr als ein kindlicher Clown war. „In der Pantomime gibt es ein paar Grundregeln, und Jackie beherrschte sie rasch“, schrieb er 1964 in seiner Autobiografie. „Er konnte Gefühl in die Handlung einbringen und Action ins Gefühl. Und er konnte eine Szene wiederholen, ohne dass die Spontaneität verlorenging.“3 Ein Naturtalent und ein Profi, wie ihn Chaplin für seinen bisher ehrgeizigsten Film, der Komödie und Drama verknüpfte, dringend brauchte.
Bereits die Anfangsszene lässt das Publikum spüren, dass es sich nicht bloß aufs Lachen einstellen soll. Ihr Neugeborenes im Arm, verlässt eine junge Mutter (dargestellt von Edna Purviance, seit 1915 Chaplins bevorzugte Leinwandund zeitweise auch Lebenspartnerin) das Krankenhaus nach der Entbindung. Vom Vater, einem aufstrebenden Künstler, wurde sie im Stich gelassen. In ihrer Verzweiflung will sie sich das Leben nehmen. Ihr Kleines legt sie vorsorglich in ein Auto, das am Straßenrand hält. Auf einem Zettel bittet sie den Finder, „für das Waisenkind zu sorgen“.
Der Ton schwenkt nun ins Burleske um. Kaum ist die junge Frau weg (sie bereut ihren Schritt schnell, kehrt aber zu spät zurück), stehlen Diebe die Limousine. Als sie das Baby auf dem Rücksitz bemerken, entsorgen sie es kurzerhand neben einer Mülltonne. Hier findet es der einsame Tramp, der seinerseits zunächst bemüht ist, den lästigen Fund loszuwerden. Dann aber gewinnt sein Mitgefühl die Überhand. Er nimmt das ausgesetzte Kind mit in seine armselige Mansarde und kümmert sich fortan rührend um den Kleinen, mit Improvisationskünsten, die typisch für die Tramp-Figur sind. So bastelt er eine Babyflasche aus einer alten Teekanne mit Schnulleraufsatz und hängt sie praktischerweise direkt über der „Wiege“auf, die eher einer Hängematte gleicht. Als der Kleine sich „feucht“anfühlt, baut er schnurstracks ein Babyklo aus einem Stuhl, in den er ein Loch sägt und darunter einen Spucknapf aufstellt.
Lustiges muss kurz sein
Vierjähriges Schauspieltalent
Vom Burlesken zum Dramatischen
Einige Jahre später leben beide noch immer zusammen: John, wie der Tramp den Jungen genannt hat (nun gespielt von Jackie Coogan), geht seinem Pflegevater zur Hand. Unter anderem dadurch, dass er Fensterscheiben einwirft, die Charlie, als Glaser „zufällig“vorbeikommend, sogleich reparieren kann. Doch dann wird der Ton wieder ernster. Das öffentliche Waisenhaus wird auf den Jungen aufmerksam und will ihn aus den „unhaltbaren“Umständen befreien, in denen er an der Seite seines selbst ernannten Pflegevaters lebt. Durch Zufall tritt auch die leibliche Mutter – mittlerweile ein erfolgreicher Opernstar und in der Wohltätigkeitsarbeit engagiert – in das Leben der beiden, ohne dass sie zunächst ahnt, dass John ihr Kind ist. Von der Sozialkritik der Eingangsszene über den Slapstick-Humor des Mittelteils entwickelt sich der Film zum herzzerreißenden Drama, das Charlie und „the Kid“zu trennen droht. So deutlich hat der Tramp nie zuvor Gefühl gezeigt. Und auch der Knirps an seiner Seite bewies in diesen ernsten Szenen ein schauspielerisches Talent, das man bei einem Vierjährigen nicht vermutet hätte.
Chaplin verarbeitete hier auch ein eigenes Kindheitstrauma: Zusammen mit ihrer Mutter Hannah lebten Charlie und sein älterer Bruder Sidney zeitweise unter großen Entbehrungen. Ihr Vater, der die Familie verlassen hatte, kam seiner Verpflichtung zu Unterhaltszahlungen oft nicht nach. Wegen psychischer Probleme wurde Hannah mehrmals in Irrenanstalten eingewiesen. Bereits als Siebenjähriger machte Charlie mit den berüchtigten Londoner Armenhäusern Bekanntschaft.
Außerdem war das viktorianische Melodram, wie Chaplin es in seiner Jugend auf den Londoner Varietébühnen kennengelernt hatte, von großen Gefühlen und tränenreichen Sze
nen geprägt.4 An diese Epoche erinnern die meisten seiner Filme inhaltlich und auch visuell. In „The Kid“zum Beispiel gibt es außer dem Automobil der Eingangsszene kaum Hinweise auf die Jetztzeit der Handlung. Der Straßenjunge und der Vagabund, dessen schäbige Dachwohnung und eine Armenunterkunft, in der beide für eine Nacht unterkommen – das Setting ist den Romanen von Charles Dickens näher als dem Amerika der 1920er-Jahre. Damit wusste Chaplin umzugehen, neu war in diesem Fall nur das Wagnis, den Zuschauern nicht das zu geben, was sie von ihm erwarteten, und was ihn bis dahin zu einem der weltweit beliebtesten und bestbezahlten Filmkünstler gemacht hatte.
So leicht, wie es am Anfang schien, ging die Arbeit an „The Waif“/„The Kid“nicht kontinuierlich voran. Bereits im Herbst 1919 geriet die Arbeit ins Stocken, weil Chaplin ahnte, dass dieser Film einige Nummern größer sein würde als jene, die er zuvor in Angriff genommen hatte. Auch finanziell hatte er sich stark engagiert und eine Anleihe von 500 000 Dollar aufgenommen. Da die First National auf Nachschub drängte, stellte er schnell noch einen Kurzfilm aus zum Teil bereits gedrehtem Material („A Day’s Pleasure“) fertig.
Neue Etappe in Chaplins Schaffen
Insgesamt dauerten die Dreharbeiten mehr als ein Jahr, und erst Ende Dezember 1920 wurde die Postproduktion abgeschlossen. Seinen Perfektionismus hatte Chaplin am Set auf neue Spitzen getrieben. Immer wieder ließ er Takes wiederholen, bis das Resultat seinen Wünschen entsprach. Am Ende lag das Drehverhältnis
bei 1:53 – das heißt, es wurde über fünfzig Mal mehr Filmmaterial belichtet, als im fertigen Film benutzt wurde. „The Kid“umfasste schlussendlich sechs Rollen, war also deutlich länger als alle vorigen Streifen Chaplins, damit aber immer noch kürzer als seine folgenden Spielfilme.
Seine Weltpremiere hatte der Film am 21. Januar 1921 in der New Yorker Carnegie Hall. Die Kritiker überschlugen sich in Lobeshymnen, und auch das Publikum strömte in Scharen in die Kinos. „The Kid“wurde einer der erfolgreichsten Filme des Jahres 1921. Wohlweislich hatte Chaplin die Tragikomödie mit einem versöhnlichen Schluss enden lassen. Die Mutter hat schließlich herausgefunden, dass der kleine John ihr Sohn ist und ihn wieder zu sich genommen. Der Tramp bleibt zurück, niedergeschlagen und allein, so wie er immer gelebt hat. Auf dem Treppenabsatz schläft er ein und träumt, dass er wie auch John und die Menschen der Nachbarschaft Engel mit Flügeln sind. Im Traum wird Engel Charlie aber nach einem Streit von einem Polizisten erschossen, und von einem Polizisten wird er auch wachgerüttelt. Doch dieser will ihn nur zum Haus der Mutter bringen, wo der einsame Tramp den kleinen John wieder in die Arme schließen kann.
Noch einige wenige Kurzfilme (darunter „The Pilgrim“) wird Chaplin für First National drehen, bevor er sich mit seinen Filmkünstlerkollegen Douglas Fairbanks, Mary Pickford und David Wark Griffith zur Gründung des „United Artists“-Verleih zusammenschließt, um ihre Filme unabhängig und in eigener Produktionsverantwortung herstellen zu können. Kurzfilme macht Chaplin danach keine mehr. Der Versuch, ein reines Melodram zu liefern, in dem er selbst als Schauspieler gar nicht auftritt („A
Woman of Paris“, 1923), erweist sich allerdings als Flop. Doch schon der folgende Film ist wieder ein Riesenerfolg: „The Gold Rush“(1925), in dem der Tramp zum Goldgräber in Alaska wird.
Ein halbes Jahrhundert später beschäftigte sich Chaplin erneut mit „The Kid“, um ihn neu in die Kinos zu bringen. Dabei entfernte er einige Szenen, die ihm nunmehr als zu sentimental erschienen und komponierte eine neue Musik, so wie er das auch für andere seiner Stummfilme tat. Durch die Kürzungen schrumpfte der Film von etwa 68 Minuten auf 53 Minuten. Die Premiere dieser Neufassung ging am 4. April 1972 im Lincoln Center in New York über die Bühne – in Anwesenheit des 82jährigen Charlie Chaplin, der erstmals wieder in den USA auftrat, nachdem er sie 30 Jahre zuvor im Streit verlassen hatte. Die Partitur mit ihrem an Tschaikowski erinnernden Hauptthema verstärkt das Mitgefühl, das der Film beim Zuschauer hervorruft. Und umso mehr muss dieser auch heute noch bei „The Kid“die ein oder andere Träne zurückdrängen.
Die deutsche Bezeichnung „Akt“gibt den englischen Ausdruck „Reel“(eigentlich: „Spule“) nur ungenügend wieder. Eine Standard-Filmspule umfasste ca. 1 000 Fuß, d. h. 300 Meter Film, was einer Projektionszeit von rund 10 Minuten bei 24 Bildern/Sekunde entspricht. Bei den meist langsameren Geschwindigkeiten, die im Stummfilm gebräuchlich waren, sind es etwa 12-15 Minuten. David Robinson: Chaplin. Sein Leben. Seine Kunst, Zürich (Diogenes Verlag) 1993, S. 300. Auch die folgenden biografischen Details stützen sich auf dieses Werk.
Charles Chaplin: My Autobiography, London (Penguin
Classics) 2003.
Tom Gunning: The Grail of Laughter and the Fallen Angel,
in: The Kid (DVD), Criterion Collection #799.