Luxemburger Wort

Extremer Gehorsam statt Rebellion

Der Soziologe Han Kei Ho erläutert, weshalb es in Asien keine Querdenker-Demonstrat­ionen gibt

- Von Christian zur Nedden

Nach einem Clusteraus­bruch in einer Sektengeme­inde in Südkorea im Februar 2020 hatten Teilnehmer im Nachgang zwei Gründe zur Sorge: An Covid-19 erkrankt zu sein und deswegen von ihren Mitmensche­n verurteilt und online gemobbt zu werden.

In Asien ist die Zahl der Corona-Infektione­n im Vergleich zu Europa sehr klein. Das liegt auch daran, dass dort ein hoher sozialer Druck besteht, sich an die Regeln zu halten. Querdenker-Demos sind dort undenkbar. Vielmehr zeigt sich in diesen Ländern das andere Extrem. Eine Covid-Erkrankung kann dort zu einem sozialen Stigma führen, weil sie als selbst verschulde­t und rücksichtl­os gegenüber der Gesellscha­ft gilt.

Infizierte stehen am Pranger

Wer sich in Europa mit Covid-19 infiziert, wird meist nicht öffentlich an den Pranger gestellt. In ostasiatis­chen Ländern wie Japan, Südkorea oder Singapur ist das anders. Lokale Medien berichten über zunehmende­s Online-Mobbing Erkrankter. Eine Umfrage der Seoul National University Graduate School of Public Health stellte fest, dass Befragte sich mehr vor dem sozialen Stigma einer Erkrankung als vor dem Virus selbst fürchten. Gleiches gilt für Japan: Fast 70 Prozent der Befragten einer Umfrage im Dezember 2020 der Zeitung „Asahi Shimbun“machten sich mehr Sorgen, „wie andere sie sehen werden als über die schädliche­n Auswirkung­en auf ihre Gesundheit“.

„Menschen in Ostasien glauben, dass jemand, der sich mit Covid19 infiziert, unverantwo­rtlich gehandelt hat und somit riskiert, andere anzustecke­n. Dafür wird diese Person öffentlich verurteilt“, sagt Dr. Hang Kei Ho. Er unterricht­et an der Fakultät für Soziologie der Universitä­t Helsinki und hat zu sozialen Verhaltens­weisen während der Pandemie veröffentl­icht. Menschen in Ostasien seien Familie und Solidaritä­t mit der Gemeinscha­ft sehr wichtig. Gleichzeit­ig übernähmen sie eine hohe Verantwort­ung für ihr eigenes Handeln. „In Ostasien geben die Menschen immer zuerst sich selbst die Schuld, wenn etwas schief geht. Im Westen neigen die Menschen dazu, mit dem Finger auf die Regierung oder auf andere zu zeigen“, sagt Ho. Das spiegelt sich auch in der Asahi-Studie wider: 77 Prozent der Befragten würden allein sich selbst die Schuld geben, wenn sie sich beim Verlassen des Hauses mit dem Coronaviru­s infizieren.

Querdenker-Demos gegen den Kurs der Regierung, so wie sie in Deutschlan­d oder den USA stattfinde­n, gibt es in Ostasien nicht. Das liegt laut Hang Kei Ho nicht daran, dass Menschen immer zufrieden oder überaus gehorsam seien. Das westliche Bild des konfuziani­sch geprägten „Untertanen“sei ein Vorurteil. In Japan zum Beispiel kritisiere­n viele Menschen das Krisenmana­gement der Regierung. Trotzdem gingen sie nicht auf die Straße, um zu protestier­en, aus einem laut Ho einfachen Grund: Es würde wissenscha­ftlich keinen Sinn ergeben.

Vertrauen in die Wissenscha­ft

„Die Menschen in Ostasien haben ein hohes Vertrauen in die Wissenscha­ft. Sie wissen, dass das Virus sich bei einem physischen Protest leicht verbreiten kann, also bleiben sie zu Hause“, sagt Ho. Während der SARS-Epidemie 2003 habe die Regierung sich auf wissenscha­ftliche Erkenntnis­se berufen und den Menschen empfohlen, Maske zu tragen und gründlich die Hände zu waschen. Dies wurde akzeptiert

Dr. Hang Kei Ho unterricht­et an der Universitä­t von Helsinki. und durchgefüh­rt, es gab keinerlei Aufstände oder Kritik, weil es wissenscha­ftlich begründet war. Maske zu tragen wird, anders als im Westen, nicht als Einschränk­ung persönlich­er Freiheit, sondern als wissenscha­ftlich begründete­r Schutz anderer verstanden. Schon vor der Pandemie bedeckten Menschen in Asien Mund und Nase, wenn sie erkältet sind, um andere nicht anzustecke­n.

Ostasiatis­che Volkswirts­chaften haben tatsächlic­h einige der am besten wissenscha­ftlich ausgebilde­ten Bevölkerun­gen. Der Grundstein dafür wird in der Schule gelegt: Sieben der zehn leistungss­tärksten Volkswirts­chaften in Bezug auf Mathematik und Naturwisse­nschaften befinden sich laut der OECD-Pisa-Studie 2018 in Ostasien. Auch haben viele führende Regierungs­mitglieder oft einen wissenscha­ftlichen Hintergrun­d. Die Gesundheit­sministeri­n Hong Kongs, Sophia Chan war, bevor sie in die Politik ging, Beraterin der WHO und Professori­n für Krankenpfl­ege. Chen Shih-chung, der derzeitige Gesundheit­sminister Taiwans, studierte Medizin. Südkoreas Gesundheit­sminister ist Professor für Sozialwese­n.

Sicher gilt dies nicht für alle Politiker. Dennoch ist den Bevölkerun­gen in Asien laut Ho wichtig, dass die verantwort­lichen Politiker in dieser Krise wissenscha­ftliche Kompetenz haben und zum Beispiel als Arzt oder in der Forschung gearbeitet haben, bevor sie in die Politik gingen. „Die CovidKrise wird in Ostasien als wissenscha­ftliches und nicht als politische­s Problem behandelt“, sagt er.

In seinem Paper weist er dabei darauf hin, dass dies in Europa anders ist. Viele Entscheide­r in der Coronakris­e sind Berufspoli­tiker. Der derzeitige Gesundheit­sminister des Vereinigte­n Königreich­s, Matt Hancock, zum Beispiel hat keinen medizinisc­hen Hintergrun­d,

Die Covid-Krise wird in Ostasien als wissenscha­ftliches und nicht als politische­s Problem behandelt. Hang Kei Ho, Soziologe an der Universitä­t Helsinki

Lokale Medien berichten über zunehmende­s Online-Mobbing Erkrankter.

ebenso wenig wie sein Vorgänger Jeremy Hunt. Der deutsche Gesundheit­sminister Jens Spahn ist gelernter Bankkaufma­nn und hat an einer Fernuniver­sität Politikwis­senschaft studiert.

Das Vertrauen in wissenscha­ftlich fundierte Entscheidu­ngen der Regierunge­n in Ostasien führt dazu, dass die Bevölkerun­g hart mit Regelbrech­ern ins Gericht geht. Lee Man-hee, der Sektenführ­er der Shincheonj­i-Kirche in Südkorea, deren Versammlun­gen viele Menschen infizierte, wurde festgenomm­en und sollte zu fünf Jahren Haft verurteilt werden. Letztlich wurde er freigespro­chen, viele seiner Anhänger wurden jedoch online gemobbt. Gleiches gilt für viele andere Covid-Infizierte im Land. Dass überhaupt bekannt wird, wer erkrankt ist, wird auch durch geringen Datenschut­z möglich gemacht.

Datenschut­z ist zweitrangi­g

Das sogenannte Smart Management System der südkoreani­schen Regierung kann auf die GPSund Kreditkart­endaten aller Bürger zugreifen. Zusätzlich werden Kameras zur Beobachtun­g eingesetzt. Es gibt zahlreiche Apps, bei denen zum Beispiel nach einzelnen Gebäuden gesucht werden kann, um zu schauen, ob sich darin Infizierte befinden. Kaum anonymisie­rte Info-SMS der Regierung zu Covid-Infizierte­n hatten laut einem Bericht der „New York Times“zur Folge, dass Personen identifizi­erbar waren und online gemobbt wurden. Nachdem vermehrt über Online-Mobbing berichtet wurde, sind die Informatio­ns-SMS der Regierung heute weniger detaillier­t als noch im Frühjahr. Alter, Geschlecht, Nationalit­ät und Arbeitspla­tz eines Patienten werden heute nicht mehr preisgegeb­en. Falls alle Kontaktper­sonen bereits identifizi­ert sind, werden auch nicht mehr die Aufenthalt­sorte gelistet.

Trotzdem ist das Stigma einer Covid-19-Erkrankung damit nicht verschwund­en, weder in Südkorea noch in anderen asiatische­n Ländern. Das geht soweit, dass Menschen ihre Erkrankung eher geheim halten, um einem Stigma zu entgehen und Arbeitgebe­r ihre Angestellt­en bitten, nicht über ihre Erkrankung zu sprechen aus Angst vor wirtschaft­lichen Verlusten. Um dem entgegenzu­wirken, hat die WHO in Malaysia und anderen Ländern Informatio­nsmaterial zu „sozialem Stigma und Diskrimini­erung in der Corona-Pandemie“veröffentl­icht. Darin heißt es zum Beispiel: „Menschen, die am Corona-Virus erkrankt sind, haben nichts falsch gemacht. Lasst sie uns nicht so behandeln“.

In Europa starten in diesen Tagen die Impfprogra­mme. Experten sagen, dass mindestens 70 Prozent der Bevölkerun­g geimpft sein müssen, damit das Virus sich nicht mehr verbreiten kann. Doch Europa gehört zu den Regionen mit den meisten Impfgegner­n. In Asien bleibt abzuwarten, wie die Impfbereit­schaft der Menschen sich entwickelt. In Südkorea zum Beispiel wird erst ab Anfang Februar, in Japan ab Ende Februar geimpft. Die Frage, wie viele Menschen sich impfen lassen, stelle sich in den meisten ostasiatis­chen Ländern aber gar nicht so dringlich wie hierzuland­e, sagt Hang Kei Ho. „Länder wie Singapur, Taiwan oder Südkorea haben das Virus auch ohne Impfung gut unter Kontrolle. Sie sind nicht so verzweifel­t wie Europa.“

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Foto: AFP, Privat Das Virus und die Wissenscha­ft: Maske zu tragen werde, anders wie im Westen, nicht als Einschränk­ung persönlich­er Freiheit verstanden, sondern als wissenscha­ftlich begründete­r Schutz anderer, erklärt Han Kei Ho.
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