Der rote Judas
18
Eine schwarze Brille saß auf seiner großen Nase, ein buschiger Schnurrbart bedeckte seine untere Gesichtshälfte. Unter den Orden auf seinem Uniformmantel entdeckte Stainer ein filigranes blaues Kreuz – Pour le Mérite. Einer der höchsten Orden, mit denen das Reich seine Kriegshelden ehrte. Und nun bettelte der arme Kerl vor dem Reichsgericht. Stainer wandte sich schaudernd ab.
Im Weitergehen hörte er, wie der Blinde das Lied der Deutschen auf seiner Mundharmonika blies, und Stainer wurde das Herz schwer. Einer der Freiwilligen seines Stoßtrupps, ein fanatischer Feldwebel, hatte es in der Dämmerung jenes Abends angestimmt, an dem Major Paul Stainer mehr als dreißig Männer über den Fluss und zu den englischen Linien geführt hatte. Den Rückweg hatte er dann allein mit seinem Hauptmann angetreten, mit Renkewiz. In tausend Alpträumen versuchte er seitdem, über den Fluss und zurück zu den deutschen Linien zu schwimmen.
Stainer verscheuchte die ungebetenen Erinnerungen und sah zu, dass er weiterkam. Der Klang der Mundharmonika hinter ihm ebbte ab, eine feuchte Windböe drohte, ihm die Melone vom Kopf zu blasen. Er hielt sie fest.
Die Katze steckte das Köpfchen aus dem Mantel und maunzte zu ihm herauf. Wie winzig wirkte das Tier doch gegen das hohe Säulenportal, den martialischen Giebel darüber und die lange Fassade des Reichsgerichts! Und wie klein und ohnmächtig fühlte er selbst sich angesichts des gewaltigen Palastes mit dem wuchtigen Turm im Zentrum!
Bald erreichte Stainer das Polizeiamt, ein klotziges Gebäude im Stil der italienischen Renaissance mit einem Eckturm und vier Flügeln. Unter dem großen Torbogen des Haupteingangs blieb er stehen und blickte zu dem einschüchternden Löwenschädel hinauf, der dort überlebensgroß aus dem Scheitelstein ragte. In Frankreich hatte er manchmal von ihm geträumt. „Da bin ich wieder“, murmelte er und trat unter dem steinernen Bogen hindurch in die Einfahrt.
In der Mitte der Durchfahrt führten auf beiden Seiten Treppen ins Gebäude, eine zur Pförtnerloge, hinter deren Fensterfront ein älterer Polizist saß. Von der Wächterstraße her brummte Motorenlärm heran, Stainer schaute zum Torbogen zurück – ein großer Benztransporter schaukelte in die Einfahrt und an ihm vorüber. Im offenen Fahrerhaus saßen ein Uniformierter und ein jüngerer Beamter in Zivil, im Kasten dahinter erkannte Stainer nur Schatten hinter Milchglasscheiben. Der Gefangenentransporter rollte in den großen Hof. Stainer stieg die kurze Treppe hinauf und verriet dem
Beamten hinter dem Pfortenfenster, was der wissen wollte: seinen Namen und den Zweck seines Besuches. Weil er ihn nicht kannte, griff der Mann daraufhin zum Fernsprecher. Während er telefonierte, zerrten zwei Wachtmeister einen schimpfenden Gefangenen in Handschellen die Stufen herauf, der junge Zivilist ging dicht hinter ihnen. „Fingerabdrücke, Fotos, das Übliche!“, rief er im Befehlston.
Die Wachtmeister schoben den Verhafteten an Stainer vorbei und durch die Flügeltür in die Eingangshalle. „Jawohl, Herr Kommissar Heinze“, sagte einer. „Und danach ins Arresthaus?“
„Korrekt.“
Der junge Kommissar nannte dem Pförtner den Namen des Verhafteten
– Ernst Hummels – und die Adresse. Dabei taxierte er Stainer mit flüchtigem Blick. Er war nicht besonders groß, jedoch von kräftiger Statur. Sein breiter Schädel saß auf kurzem Hals mit ausgeprägtem Stiernacken. Ein Mittelscheitel teilte seine dichten, blonden Locken, sein Oberlippenbart lief in gezwirbelten Spitzen aus. Stainer, der ihn nicht kannte, nickte ihm zu, doch der Jüngere reagierte nicht und lehnte sich neben ihm in die Pförtnerloge hinein.
„Ihre Wette, Mayer“, sagte er zu dem Polizisten, der gerade den Hörer in die Gabel legte. „Und Ihren Einsatz.“
„Eins zu null für die Berliner, Herr Kommissar“, sagte der Pförtner und drückte dem Kommissar drei Groschen in die Hand, und Stainer dämmerte es, dass es um Fußball ging.
„Na, Sie sind mir ja ein Schwarzmaler!“Der Kommissar steckte das Geld ein und stieß einen Flügel der Eingangstür auf.
„Selbstverständlich wird der VfB Leipzig wieder gewinnen!“, tönte er und verschwand hinter der Tür.
Der Uniformierte in der Pforte grinste säuerlich und wandte sich an Stainer. „Herr Dr. Kubitz erwartet Sie, Herr Kommissar Stainer.“
Stainer trat in die Eingangshalle, blieb einen Moment stehen und sog den vertrauten Anblick der breiten, dreigliedrigen Treppe, des gusseisernen Geländers, der Säulen und des Deckenstucks in sich auf.
„Kommissar Stainer ist wieder da“, murmelte er. Fast wären ihm die Tränen gekommen.
Von links, aus der Kriminalabteilung, hörte er laute Stimmen. Der Gefangene beschwerte sich, und aus der gebrüllten Antwort des jungen Kommissars hörte Stainer seinen Namen heraus: Hummels.
Er stieg ins erste Obergeschoss hinauf. Langsam und tief atmend schritt er durch die breite Zimmerflucht. Vor der Tür zum Vorzimmer des Direktors ruhte sein Blick auf einem blank gewienerten Messingschild: Dr. jur. Friedrich Kubitz, Polizeidirektor.
Sein Vater hatte ihm über den neuen Polizeichef erzählt, was er wusste – Pfarrerssohn, Hauptmann der Reserve, Frankreichfeldzug, zweimal verwundet, seit August letzten Jahres im Amt. Und das Wichtigste: Stainer und Kubitz waren sich nie zuvor begegnet.
Er klopfte und wartete, bis eine Frauenstimme ihn hineinrief, ehe er ins Vorzimmer trat. Elektrisches Licht brannte an der Decke. Zwischen Schreibtisch und Aktenschrank stand eine Frau mittleren Alters. Sie war recht groß, hatte feine Gesichtszüge, brünettes Haar und einen üppigen Busen – und sie schaute ihn stumm und aus großen Augen an. Stainer wusste sofort, dass er sie kannte. Doch woher?