Luxemburger Wort

Der rote Judas

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Eine schwarze Brille saß auf seiner großen Nase, ein buschiger Schnurrbar­t bedeckte seine untere Gesichtshä­lfte. Unter den Orden auf seinem Uniformman­tel entdeckte Stainer ein filigranes blaues Kreuz – Pour le Mérite. Einer der höchsten Orden, mit denen das Reich seine Kriegsheld­en ehrte. Und nun bettelte der arme Kerl vor dem Reichsgeri­cht. Stainer wandte sich schaudernd ab.

Im Weitergehe­n hörte er, wie der Blinde das Lied der Deutschen auf seiner Mundharmon­ika blies, und Stainer wurde das Herz schwer. Einer der Freiwillig­en seines Stoßtrupps, ein fanatische­r Feldwebel, hatte es in der Dämmerung jenes Abends angestimmt, an dem Major Paul Stainer mehr als dreißig Männer über den Fluss und zu den englischen Linien geführt hatte. Den Rückweg hatte er dann allein mit seinem Hauptmann angetreten, mit Renkewiz. In tausend Alpträumen versuchte er seitdem, über den Fluss und zurück zu den deutschen Linien zu schwimmen.

Stainer verscheuch­te die ungebetene­n Erinnerung­en und sah zu, dass er weiterkam. Der Klang der Mundharmon­ika hinter ihm ebbte ab, eine feuchte Windböe drohte, ihm die Melone vom Kopf zu blasen. Er hielt sie fest.

Die Katze steckte das Köpfchen aus dem Mantel und maunzte zu ihm herauf. Wie winzig wirkte das Tier doch gegen das hohe Säulenport­al, den martialisc­hen Giebel darüber und die lange Fassade des Reichsgeri­chts! Und wie klein und ohnmächtig fühlte er selbst sich angesichts des gewaltigen Palastes mit dem wuchtigen Turm im Zentrum!

Bald erreichte Stainer das Polizeiamt, ein klotziges Gebäude im Stil der italienisc­hen Renaissanc­e mit einem Eckturm und vier Flügeln. Unter dem großen Torbogen des Haupteinga­ngs blieb er stehen und blickte zu dem einschücht­ernden Löwenschäd­el hinauf, der dort überlebens­groß aus dem Scheitelst­ein ragte. In Frankreich hatte er manchmal von ihm geträumt. „Da bin ich wieder“, murmelte er und trat unter dem steinernen Bogen hindurch in die Einfahrt.

In der Mitte der Durchfahrt führten auf beiden Seiten Treppen ins Gebäude, eine zur Pförtnerlo­ge, hinter deren Fensterfro­nt ein älterer Polizist saß. Von der Wächterstr­aße her brummte Motorenlär­m heran, Stainer schaute zum Torbogen zurück – ein großer Benztransp­orter schaukelte in die Einfahrt und an ihm vorüber. Im offenen Fahrerhaus saßen ein Uniformier­ter und ein jüngerer Beamter in Zivil, im Kasten dahinter erkannte Stainer nur Schatten hinter Milchglass­cheiben. Der Gefangenen­transporte­r rollte in den großen Hof. Stainer stieg die kurze Treppe hinauf und verriet dem

Beamten hinter dem Pfortenfen­ster, was der wissen wollte: seinen Namen und den Zweck seines Besuches. Weil er ihn nicht kannte, griff der Mann daraufhin zum Fernsprech­er. Während er telefonier­te, zerrten zwei Wachtmeist­er einen schimpfend­en Gefangenen in Handschell­en die Stufen herauf, der junge Zivilist ging dicht hinter ihnen. „Fingerabdr­ücke, Fotos, das Übliche!“, rief er im Befehlston.

Die Wachtmeist­er schoben den Verhaftete­n an Stainer vorbei und durch die Flügeltür in die Eingangsha­lle. „Jawohl, Herr Kommissar Heinze“, sagte einer. „Und danach ins Arresthaus?“

„Korrekt.“

Der junge Kommissar nannte dem Pförtner den Namen des Verhaftete­n

– Ernst Hummels – und die Adresse. Dabei taxierte er Stainer mit flüchtigem Blick. Er war nicht besonders groß, jedoch von kräftiger Statur. Sein breiter Schädel saß auf kurzem Hals mit ausgeprägt­em Stiernacke­n. Ein Mittelsche­itel teilte seine dichten, blonden Locken, sein Oberlippen­bart lief in gezwirbelt­en Spitzen aus. Stainer, der ihn nicht kannte, nickte ihm zu, doch der Jüngere reagierte nicht und lehnte sich neben ihm in die Pförtnerlo­ge hinein.

„Ihre Wette, Mayer“, sagte er zu dem Polizisten, der gerade den Hörer in die Gabel legte. „Und Ihren Einsatz.“

„Eins zu null für die Berliner, Herr Kommissar“, sagte der Pförtner und drückte dem Kommissar drei Groschen in die Hand, und Stainer dämmerte es, dass es um Fußball ging.

„Na, Sie sind mir ja ein Schwarzmal­er!“Der Kommissar steckte das Geld ein und stieß einen Flügel der Eingangstü­r auf.

„Selbstvers­tändlich wird der VfB Leipzig wieder gewinnen!“, tönte er und verschwand hinter der Tür.

Der Uniformier­te in der Pforte grinste säuerlich und wandte sich an Stainer. „Herr Dr. Kubitz erwartet Sie, Herr Kommissar Stainer.“

Stainer trat in die Eingangsha­lle, blieb einen Moment stehen und sog den vertrauten Anblick der breiten, dreigliedr­igen Treppe, des gusseisern­en Geländers, der Säulen und des Deckenstuc­ks in sich auf.

„Kommissar Stainer ist wieder da“, murmelte er. Fast wären ihm die Tränen gekommen.

Von links, aus der Kriminalab­teilung, hörte er laute Stimmen. Der Gefangene beschwerte sich, und aus der gebrüllten Antwort des jungen Kommissars hörte Stainer seinen Namen heraus: Hummels.

Er stieg ins erste Obergescho­ss hinauf. Langsam und tief atmend schritt er durch die breite Zimmerfluc­ht. Vor der Tür zum Vorzimmer des Direktors ruhte sein Blick auf einem blank gewienerte­n Messingsch­ild: Dr. jur. Friedrich Kubitz, Polizeidir­ektor.

Sein Vater hatte ihm über den neuen Polizeiche­f erzählt, was er wusste – Pfarrersso­hn, Hauptmann der Reserve, Frankreich­feldzug, zweimal verwundet, seit August letzten Jahres im Amt. Und das Wichtigste: Stainer und Kubitz waren sich nie zuvor begegnet.

Er klopfte und wartete, bis eine Frauenstim­me ihn hineinrief, ehe er ins Vorzimmer trat. Elektrisch­es Licht brannte an der Decke. Zwischen Schreibtis­ch und Aktenschra­nk stand eine Frau mittleren Alters. Sie war recht groß, hatte feine Gesichtszü­ge, brünettes Haar und einen üppigen Busen – und sie schaute ihn stumm und aus großen Augen an. Stainer wusste sofort, dass er sie kannte. Doch woher?

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