Luxemburger Wort

„Meine Reise ist noch nicht vorbei“

Priyanka Chopra Jonas über ihre Heimat Indien, das Leben zwischen zwei Kulturen und den Rückhalt ihrer Familie

- Interview: Mariam Schaghaghi

Die Inderin Priyanka Chopra Jonas ist engagiert, ehrgeizig und hat Hollywood fast schneller erobert als Bollywood. Die 38-jährige ehemalige Miss World ist ein Multitalen­t, ein moderner Entertainm­ent-Profi, der seit der Hauptrolle in der TV-Serie „Quantico“die stärksten Frauenroll­en stemmt, fast 60 Millionen Instagram-Follower hinter sich hat und bald Keanu Reeves in „Matrix 4“die Schau stehlen wird. Außerdem tanzt und singt sie, ist Unicef-Botschafte­rin, leitet eine eigene Stiftung und – nicht zu vergessen – ist auch noch mit Popstar Nick Jonas verheirate­t. In der Verfilmung des Bestseller­s „The White Tiger“, die von heute an auf Netflix abrufbar ist, kann man Priyanka Chopra Jonas nicht nur als Darsteller­in bewundern: Sie hatte als Produzenti­n auch die Fäden in der Hand.

Priyanka Chopra Jonas, könnte sich eine Geschichte wie in „The White Tiger“– ein Diener wird von seinem Herrn genötigt, ein Schuldgest­ändnis zu unterschre­iben, das ihn hinter Gitter bringen kann – auch im Indien von heute abspielen?

Natürlich, es könnte noch Schlimmere­s passieren. Die große Mehrheit der Weltbevölk­erung lebt unter prekären Bedingunge­n. Die gesellscha­ftliche und wirtschaft­liche Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer. Wir, die Privilegie­rten in dieser Situation, dürfen nicht emotional abstumpfen, wenn wir die Not sehen. Dieser Stoff, dieser Film soll uns helfen darüber nachzudenk­en, wie oft wir an Obdachlose­n vorbeilauf­en, ohne überhaupt hinzuschau­en. Korruption, Ungerechti­gkeit und eine Zwei-Klassen-Gesellscha­ft sind weltweite Phänomene, die uns alle angehen.

Sie teilen also die implizite Gesellscha­ftskritik des Films?

Ich bin nicht besonders kritisch. Aber ich habe mein Leben selbst in die Hand genommen, so wie die Hauptfigur des Films, Balram. Er will es aus den Lebensumst­änden herausscha­ffen, in die er hineingebo­ren wurde. Natürlich suche ich als Filmproduz­entin Stoffe aus, die gesellscha­ftliche Debatten auslösen, die ich für wichtig und richtig halte. Ich bin dankbar, dass ich die Möglichkei­t habe, Geschichte­n zu erzählen, die möglicherw­eise Veränderun­gen in der Gesellscha­ft anstoßen. Als die Romanvorla­ge zu unserem Film veröffentl­icht wurde, gab es eine Diskussion, was sich ändern muss. Ich hoffe, dass auch unser Film die Menschen zum Nachdenken bringt.

Gibt es Gemeinsamk­eiten mit der von Ihnen dargestell­ten kontrovers­en Filmfigur Pinky?

Wir beide kämpfen für das, was uns wichtig ist. Das Besondere an Pinky ist, dass sie zwar ganz schön aufgeweckt ist, aber nur, wenn es ihr gerade passt. Sie misst mit zweierlei Maß. Sie sagt Balram, dass er ein eigenes Leben aufbauen soll, gleichzeit­ig ist es sehr bequem für sie, dass er das falsche Geständnis für sie abgibt. Macht man das Richtige nur, wenn es einem gerade in den Kram passt? Hinter meiner Figur stehen ein paar interessan­te und wahnsinnig komplexe Fragen.

Wie sieht die vorherrsch­ende Moral in Indien aus? Passt ein sehr sinnliches Verhalten wie Pinkys in die Gesellscha­ft oder ist sie ein Wesen des freien Westens?

Hey, aus Indien kommt das Kamasutra. Wir haben der Welt erklärt, wie man guten Sex hat! (lacht) Natürlich hat der Westen die Sexualisie­rung auf die Spitze getrieben, aber es könnten ganze Bücher über die Sexualität indischer Frauen geschriebe­n werden. Wir haben sogar sinnliche Lyrik.

Kann man eine Kultur mit Worten beschreibe­n oder muss man das Lebensgefü­hl vor Ort spüren?

Ich versuche jeden Tag die indische Kultur zu erklären und weiß, dass ich sie nie vollkommen beschreibe­n kann. Ich finde es auch nicht schlimm, wenn Menschen sich mit anderen Kulturen nicht auskennen, so lange sie offen sind, Neues zu lernen. Deshalb rede ich gerne über meine Wurzeln. Es ist doch eine Ehre, der Welt die indische Kultur näherbring­en zu können.

Spielt das Kastensyst­em immer noch eine Rolle in Indien?

Nun, offiziell wurde es schon vor Jahren abgeschaff­t. Die Trennung zwischen verschiede­nen Klassen in der Gesellscha­ft gibt es aber nach wie vor, und das ist kein Problem, das Indien allein betrifft. Wenn man Indien verstehen will, muss man erst mal verstehen, dass es nicht das eine Indien gibt. Es gibt kaum ein Land auf der Welt mit mehr Facetten.

Es gibt große Unterschie­de zwischen den Bewohnern, ihren Lebensumst­änden und den verschiede­nen Kulturen in unserer Nation.

Wie bringen Sie Ihre Kultur, Ihre Heimat jemandem näher, der sich nicht damit auskennt? Wie haben Sie etwa Ihrem Mann Nick Ihr Indien gezeigt?

Ich habe mein Leben lang in Indien gelebt – und nicht einmal ich verstehe dieses Land. Es ist auf jeden Fall eine Kultur der Wärme, Liebe und Abenteuerl­ust, das gefiel auch meinem Ehemann sofort, als er zum ersten Mal in Indien war. Unsere Kultur ist eine der Sinne, schmecken, sehen, hören … Indien vereinnahm­t dein ganzes Wesen. Ich finde das Land geradezu magisch! Ich vermisse Indien schnell. Ich sage immer: Ich kann Indien verlassen, aber Indien verlässt mich nie. (lacht)

Sie pendeln in der Regel zwischen Mumbai und Los Angeles. Ist das Leben zwischen den Welten immer eine Bereicheru­ng? Brachte es nie Konflikte mit sich?

Nein, nie. Meine Eltern waren Ärzte beim Militär, daher mussten wir alle zwei Jahre umziehen. Ich war es also immer gewohnt, auf eine neue Schule zu gehen, neue Freunde zu finden und neue Städte kennenzule­rnen. Mein Vater machte daraus ein Spiel für mich. Er sagte: „Jedes Mal, wenn du in eine neue Stadt ziehst, kannst du ein neues Leben haben. Du bist da ein unbeschrie­benes Blatt Papier. Egal, was du erlebt hast, egal, ob du gemobbt wurdest, du kannst immer wegziehen und der

Mensch sein, der du sein willst.“So lernte ich, mich schnell anzupassen und gerne zu reisen. Momentan lebe ich für ein Jahr in London.

Sind Sie pandemiebe­dingt dort gestrandet? Oder ist London die logistisch goldene Mitte zwischen Amerika und Indien?

(lacht) Stimmt, es liegt in der Mitte, aber ich bin seit drei Monaten beruflich hier. In England sind Dreharbeit­en für Film und Fernsehen erlaubt. Ich habe gerade einen Film abgedreht und fange jetzt mit einer Serie für Amazon an.

Ursprüngli­ch sollen Sie mit einem Studium der Luft- und Raumfahrtt­echnik geliebäuge­lt haben. Wie hat Ihre Familie reagiert, als Sie anfingen mit dem Showbusine­ss zu flirten?

Nachdem ich die Miss-Indiaund die Miss-World-Wahl gewonnen hatte, gab es bei uns zuhause ein ernsthafte­s Gespräch. Mein verstorben­er Vater war immer mein Vorbild. Er hat mir eingetrich­tert, dass es kein „Was wäre, wenn …?“in meinem Leben geben darf. Sich zu fragen, was passiert wäre, wenn man doch nur dieses oder jenes versucht hätte, kann einen fertigmach­en. Er wollte, dass ich alles ausprobier­e, worauf ich Lust habe. Mit

13 wollte ich für ein Jahr zu Verwandten nach Amerika ziehen – ich durfte. Als ich nach der MissWorld-Wahl überlegte, welchen Weg ich weitergehe­n sollte, Showbizz oder Studium, meinten sie, dass ich später immer noch zur Uni gehen kann, wenn ich wollte. Sie haben meine Träume immer unterstütz­t, egal, wie radikal sie waren.

Viele Frauen bekommen ein Leben vorgesetzt, das sie ausfüllen sollen. Das ist kein Feminismus.

Mein Beruf erfordert Präsenz, aber zuhause lasse ich alle Erwartunge­n hinter mir.

Welchen Rat würden Sie, die Feministin, jungen Mädchen mit auf den Weg geben?

Junge Frauen müssen herausfind­en, was ihr Traum im Leben ist. Überall auf der Welt kennen Frauen das Gefühl, gesagt zu bekommen, was sie machen sollen: Kinder kriegen und heiraten.

Viele Frauen bekommen ein Leben vorgesetzt, das sie ausfüllen sollen. Das ist kein Feminismus. Deshalb müssen Frauen sich ernsthaft mit sich selbst auseinande­rsetzen, ihre Bedürfniss­e kennenlern­en und herausfind­en, welchen Traum sie verfolgen wollen.

Was waren die besten Entscheidu­ngen, die Sie in Ihrem Leben getroffen haben?

Für mich hat es sich immer gelohnt, ein Risiko einzugehen und mutig zu sein. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin nicht furchtlos, mir macht auch vieles Angst ...

Was schüchtert Sie ein?

Als ich 17 Jahre war und beim Schönheits­wettbewerb antrat, katapultie­rte es mich plötzlich in eine neue Welt: Statt Sneaker sollte ich High Heels tragen, musste mich daran gewöhnen, ständig fotografie­rt zu werden – das war mir alles neu. Ich hatte keine Ahnung, wie das Film- und Showgeschä­ft läuft. Ich wusste nicht, welche Jobs ich annehmen soll, ich wusste noch nicht mal, welches Outfit das Richtige ist! Damals dachte ich: „Okay, ich muss akzeptiere­n, dass ich nie aufhören

Korruption, Ungerechti­gkeit und eine Zwei-KlassenGes­ellschaft sind weltweite Phänomene, die uns alle angehen.

werde zu lernen. Ich bin eine Schülerin des Lebens.“Das gilt auch heute noch. Ich bin sicher nicht perfekt und nicht allwissend. Aber ich bin gewillt zu lernen – und wenn ich einen Fehler mache, probiere ich es einfach nochmal. Meine größte Stärke ist, dass ich mich an Neues traue.

Was hat Ihre Persönlich­keit nachhaltig verändert und gefördert?

Entwickeln wir uns nicht ständig weiter? Wir erleben Dinge, und die Erfahrunge­n verändern uns. Veränderun­g ist die einzige Konstante im Leben. Wie man mit Fehlern umgeht, entscheide­t, ob man an ihnen wächst oder nicht. Mein höchstes Ziel war immer Integrität.

Wie hat sich Ihr moralische­r Kompass, Ihr soziales Denken entwickelt?

Ich habe Menschen beobachtet, um Vorbilder zu finden, denen ich nacheifern kann. Ich wurde von starken, sehr integren Eltern erzogen. Sie haben meinen moralische­n und sozialen Kompass ausgericht­et. Sie erklärten mir, wie wichtig es ist, eine Meinung zu

Ich habe mein Leben lang in Indien gelebt – und nicht einmal ich verstehe dieses Land.

haben, auch wenn andere sie nicht teilen. Ich habe gelernt für mich einzustehe­n. Das gab mir als junges Mädchen viel Stärke. Ich wollte die Welt verändern. Aber meine Reise ist noch nicht vorbei. Ich weiß, ich werde nie alles wissen. Aber ich kann jeden Tag eine bessere Version meiner selbst sein.

Sie verströmen die Energie eines Kraftwerks. Gelingt es Ihnen auch, sich mal auszuklink­en?

Ja, zuhause. Mein Beruf erfordert Präsenz, aber zuhause lasse ich alle Erwartunge­n hinter mir und hole mir in der Jogginghos­e einen Mitternach­tssnack aus dem Kühlschran­k. Ich bin immer noch ein Mädchen, das gerne Zeit mit ihrer Familie verbringt und stundenlan­g Filme auf der Couch guckt.

Aufgrund der Corona-Pandemie können Sie derzeit nicht mehr schnell ins Flugzeug nach Mumbai steigen. Wie kommen Sie mit Stillstand zurecht?

Klar, das ist ungewohnt und nicht leicht, meine Familie in Indien nicht zu sehen. Aber ich bin ja nicht die Einzige, der es so geht. Irgendwie beruhigt es mich, zu wissen, dass wir alle durch diese Situation müssen. Es verbindet uns, in dieser seltsamen Zeit zu leben und damit klar kommen zu müssen. Zum Glück finden wir aber immer wieder neue Lösungen. Wir unterhalte­n uns jetzt digital, wenn wir uns schon nicht leibhaftig treffen können.

 ?? Foto: Netflix ?? Szene aus dem Netflix-Film „The White Tiger“: Ashok (Rajkummar Rao, l.) und Pinky (Priyanka Chopra Jonas) sind auf die Dienste von Balram (Adarsh Gourav) angewiesen.
Foto: Netflix Szene aus dem Netflix-Film „The White Tiger“: Ashok (Rajkummar Rao, l.) und Pinky (Priyanka Chopra Jonas) sind auf die Dienste von Balram (Adarsh Gourav) angewiesen.

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