Trauer und Wut
Ein Jahr nach den Morden von Hanau fühlen die Hinterbliebenen sich im Stich gelassen
Was für eine Frage. „Was wäre aus den Opfern von Hanau geworden?“steht am Sonntag, ehe sich die neun Morde in der Nacht des 19. Februar 2020 zum ersten Mal jähren, als Schlagzeile in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“(FAS). Und schon, was darunter im vierten Absatz über Vili Viorel Pãun zu lesen ist – einen 23 Jahre jungen Mann, der vier Jahre vor seinem Tod aus Rumänien nach Deutschland kam, weil seine Eltern Niculescu und Iulia ein gutes Leben wollten für ihn – was da also zu lesen ist, trifft einen ins Herz. Bei einem der geheiligten Essen zu dritt habe Vili, erzählt Niculescu Pãun zu ihm gesagt: „Schau mal, wie schön dieses Land ist. Auf den Straßen ist es sicher, die Menschen sind freundlich.“
Nun ist Vili Viorel Pãun seit einem Jahr tot. Erschossen von Tobias R., 43. Der hat schon Kaloyan Velkov getötet, Fatih Saraçoglu und Sedat Gürbüz, als er auf Vili Viorel Paun trifft. Pãun parkt gerade sein Auto ein, R. kommt von seinen Morden, schießt – trifft aber nicht. R. fährt davon, Pãun hinterher – und wählt zugleich mit seinem Handy den Notruf der Polizei. Immer wieder. Doch niemand hebt ab. Als R. wieder anhält, ist Pãun hinter ihm. R. steigt aus und erschießt Vili Viorel Pãun. Und nach ihm Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz, Ferhat Unvar, Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtovic.
Wenn von den Opfern von Hanau die Rede ist, sind diese neun Menschen gemeint.
Als ein Spezialkommando ihren Mörder findet, nachts gegen drei im Reihenhaus seiner Eltern, ist R. tot. Und seine Mutter auch. Sein Vater macht kurz vor Weihnachten Schlagzeilen. Der „Spiegel“berichtet, dass er die Tatwaffen und die Munition seines Sohnes zurückverlange. Und dass R. senior fordere, alle Gedenkstätten für die Opfer seines Sohnes zu entfernen. Er halte sie für „Volksverhetzung“.
Pünktlich zum Jahrestag berichtet Armin Kurtovic, der Vater von
Hamza, der „Süddeutschen“: „Als der Vater des Täters sagte, dass noch mehr Menschen sterben könnten – glauben Sie, jemand hat mich angerufen und gesagt: Bitte passen Sie auf sich auf? Nein. Wir wurden angerufen und dazu aufgerufen, keine Blutrache zu üben.“Armin Kurtovic beklagt eine „Opfer-Täter-Umkehr“.
Nicht nur er wirft vor allem der hessischen Polizei „komplettes Behördenversagen“vor. Vor den Morden. In der Tatnacht. Und danach. Die Hinterbliebenen – und die Verletzten, die Traumatisierten, die es ja außerdem gibt – haben viele unbeantwortete Fragen.
Wieso konnte Tobias R. trotz seiner psychischen Erkrankung – er hatte Wahnvorstellungen – legal zwei Waffen besitzen? Warum reagierten weder die Staatsanwaltschaft Hanau noch die Bundesanwaltschaft auf Anzeigen von ihm, in denen er angab, er werde von einem Geheimdienst überwacht? Weshalb war der Polizei-Notruf in dieser Nacht ständig belegt? Wieso konnte R. auch vom zweiten Tatort entkommen? War dort, in der „Arena Bar“, der Hinterausgang seit langem versperrt, um der Polizei ihre häufigen Razzien zu erleichtern? Ajla Kurtovic, die Schwester von Hamza, sieht „eigentlich alle Fragen unbeantwortet“. Um den Jahrestag herum ist sie – wie alle Angehörigen – eine gesuchte Gesprächspartnerin. Und immer reden die Hinterbliebenen von verlorenem Vertrauen. Zuallererst in die hessischen Sicherheitsbehörden.
Versäumnisse
Der NSU hat in Hessen gemordet. Der Landes-Verfassungsschutz blockierte die Ermittlungen, auch der heutige Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU), der damals Innenminister war. Im Fall des „NSU 2.0“, der Morddrohungen per EMail verschickt, führen Spuren zur hessischen Polizei – aus deren Computern wohl die genutzten Daten stammen. Und im Juni 2019 wurde der hessische CDU-Politiker Walter Lübcke ermordet: Alles Taten von Rechtsextremisten. Vom amtierenden Innenminister
Peter Beuth (CDU) aber sagen selbst Parteifreunde: Statt für Aufklärung in den Sicherheitsbehörden zu sorgen, mauere er.
Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) ernannte zwei Tage nach den Morden einen Opferbeauftragten. Robert Erkan, inzwischen zurückgekehrt in seinen Beruf als Coach und Mediator, erkennt bei Beuth und anderen „ein Haltungsproblem und ein strukturelles Problem“. Verletzte und Hinterbliebene brauchten Klarheit. Und es dürfe nicht ihnen überlassen werden, dafür zu sorgen. Das aber ist die Realität. Und auch Alltagsrassismus, Diskriminierung, offener Hass – die, sagt die Opposition im Hessischen Landtag, von der Polizei zu oft ignoriert würden.
Çetin Gültekin, der Bruder von Gökhan, erklärt zum Jahrestag der „Süddeutschen“, Rassismus werde in Deutschland „regelrecht gepflegt“. Die Politik tue nichts gegen die rechtsextremen Netzwerke. Auch mit der „FAS“hat Çetin Gültekin geredet. Und beklagt, nicht der Täter, die Hinterbliebenen hätten „die volle Härte der deutschen Bürokratie zu spüren bekommen“.
Und Armin Kurtovic, dem die Polizei acht Tage lang nicht verriet, wo sein toter Sohn war, erzählt, wie Hamza sich aufregte, weil die Polizei ihn immer wieder kontrollierte, „routinemäßig“. Und dass er ihm geantwortet habe: „Die machen doch nur ihren Job. Wenn es die nicht gäbe, könnte man sich nicht auf die Straße trauen.“