Showdown zwischen Moskau und Straßburg
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fordert Alexej Nawalnys Freilassung – Russlands Staatsvertreter zürnen
Die Entscheidung sei unrechtmäßig und stelle einen sehr ernsthaften Einmischungsversuch in die innerrussische Gerichtsbarkeit dar, erklärte Kremlsprecher Dmitri Peskow gestern. Das Justizministerium hatte schon am Vortag vom „Überschreiten einer,roten Linie’” geredet. Außenamtssprecherin Maria Sacharowa verglich die Forderung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Alexej Nawalny freizulassen, sogar mit dem unverschämten Auftreten des proletarischen Hauswartes Schwonder in Michail Bulgakows Roman „Hundeherz“.
Russlands Staatsmacht will keinerlei Zweifel lassen: Der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny bleibt hinter Gitter. Obwohl, wie vorgestern bekannt wurde, eine siebenköpfige EGMR-Kammer seine unverzügliche Freilassung angeordnet hat. Nach Regel 39 des Gerichtshofes sehen die sieben Richter das Leben Nawalnys im Gefängnis in Gefahr, russische Menschenrechtler erklären die Entscheidung auch mit dem Giftmordanschlag auf Nawalny vom August.
Diskussion über Ausschluss Russlands aus Europarat
Damit spitzt sich der Streit um das Schicksal des Regimekritikers zwischen der EU und Russland weiter zu. Auch russische Juristen betrachten die Straßburger Entscheidung als verpflichtend. „Sie muss erfüllt werden“, sagte Sergei Golubok, russischer Anwalt am EGMR, dem Portal „fontanka.ru“, „das fordert sowohl das internationale wie das russische Recht“.
Schon wird in Moskau über jene Statuten des Europarates diskutiert, die es erlauben, einen Mitgliedstaat auszuschließen, wenn er grob gegen Rechtsstaatlichkeit oder Menschenrechte verstößt.
Zwar beantwortete Kremlsprecher Peskow gestern die Frage, ob Russland einen Austritt aus dem
Europarat plane, „eher negativ“. Und Tatjana Gluschkowa, Juristin des Menschenrechtszentrums Memorial, erklärte, weder der EGMR noch der Europarat besäßen Kontrollinstrumente, um Russland zu irgendetwas zu zwingen. „Es gibt eine Unmenge von EGMR-Entscheidungen, auch gemäß der Regel 39, die Russland nicht ausführt.“Es sei möglich, dass Nawalny im Gefängnis überlebe. Aber Russland habe vorher viele Menschen dem EGMR zum Trotz an zentralasiatische Staaten ausgeliefert, wo sie garantiert Folter erwartete. „Und danach hat der Europarat Russland nie ausgeschlossen.“
Aber wie auch andere Fachleute hält sie die weitere Entwicklung im Fall Nawalny für kaum vorhersagbar. Vermutlich bleibe er im Gefängnis. Aber es gäbe noch die
Möglichkeit, dass er morgen freikommt, wenn ein Moskauer Berufungsgericht über die Rechtmäßigkeit der Umwandlung jener Bewährungsstrafe in 32 Monate Haft befindet, die der EGMR schon 2017 als gesetzwidrig bezeichnet hatte.
Lawrow droht mit „Abbruch“
der Beziehungen zur EU Allerdings halten die meisten Beobachter diese Chance für gering. Nawalny dürfte Straßburg weiter beschäftigen. Und am kommenden Montag könnten die EUAußenminister über neue Sanktionen gegen Russland entscheiden. Moskaus Chefdiplomat Sergej Lawrow denkt bereits laut über einen möglichen „Abbruch“der Beziehungen zur EU nach. Die Zukunft des Verhältnisses zwischen Europa und Russland wird zusehends ungewiss.
Russlands Staatsmacht will keinerlei Zweifel lassen: Der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny bleibt hinter Gitter.