Luxemburger Wort

„Die Kirche muss sich der Leere aussetzen“

Der Theologe Winfried Heidrich über die Bedeutung des Fastens in einer säkularen Welt – und in Zeiten der Pandemie

- Interview: Sarah Schött

Die Fastenzeit hat vor wenigen Tagen begonnen. Gerade in der Corona-Pandemie fragt sich manch einer, ob er denn überhaupt noch auf etwas verzichten soll – ist das Verbot zu reisen und Freunde zu treffen doch schon Einschränk­ung genug. Es lohnt sich trotzdem – meint der Theologe und ehemalige luxemburgi­sche Krankenhau­sseelsorge­r Winfried Heidrich (64) und erklärt seine Sicht auf die Fastenzeit.

Winfried Heidrich, was bedeutet Fasten für Sie?

Zunächst etwas weglassen – klassisch Essen und Trinken. Das Fasten steht dabei für uns Christen in einem religiösen Kontext. Wobei man bei Google unter „Fasten“zunächst nur Links zum Heilfasten findet, das Thema Fasten ist säkular geworden. Da man beim Fasten also etwas weglässt, entsteht folglich eine Leere.

Wie füllt man diese Leere?

Die Frage ist, ob die Leere überhaupt gefüllt werden muss – oder ob man sich der Leere stellt, ohne sie direkt zu füllen. Beim Fasten schauen wir, was in der Leere entsteht. Meister Eckhart, Theologe und Philosoph des 13. Jahrhunder­ts, spricht vom „ledig werden“– vom frei Werden von allem oder vielem, was belastet. Religiös könnte man sagen, ledig werden für Gott.

Gestalten Sie ihre Fastenzeit außerhalb des Essen-Fastens aktiv?

In klassische­n Fastenzeit­en, vor Ostern und im Advent, versuche ich auf Alkohol, Fleisch oder Autofahren zu verzichten. Kann ich in einer zum Alkohol neigenden Gesellscha­ft auf Alkohol verzichten? Oder kann ich verzichten zu kaufen? Bei mir sind Bücher die Schokolade. Das sind Fragen, die ich mir in der traditione­llen Fastenzeit stelle und versuche, fastend zu beantworte­n.

Warum fasten auch viele, die mit Religion nicht viel am Hut haben?

Wir leben in einer Gesellscha­ft, die die Ressourcen der Erde ausbeutet. Wir konsumiere­n und viele merken, dass der Konsum sie nicht befriedigt. Nehmen wir das Beispiel Essen. Der ständige Konsum macht uns ungesund dick – physisch und psychisch – gleichzeit­ig gibt es Gesellscha­ften, da sind Menschen unterernäh­rt. Essen wird somit zur Frage einer Verteilung­sgerechtig­keit. Fasten öffnet die Augen für Überfluss und Mangel. Ich bekomme in Covid-Zeiten meine Rente ungekürzt weiter, ein anderer macht seinen Laden in Luxemburg für immer dicht. Ist das gerecht? Fasten berührt auch solche aktuellen Fragen.

Auf was könnte man fasten – abgesehen vom klassische­n Alkoholode­r Süßigkeite­nverzicht?

Es gibt Schweigefa­sten – viele gehen ins Kloster und üben das Schweigen. In einer Welt, in der unkontroll­iert, permanent und beliebig gesprochen wird. Ein wunderbare­s Fasten ist auch Bedeutsamk­eitsfasten. Menschen, die sich zu bedeutsam finden, können sieben Wochen ohne Bedeutsams­ein ausprobier­en. Oder Informatio­nsfasten, das heißt, den Computer oder Fernseher auslassen. Vielleicht kann ich fasten, indem ich stattdesse­n einmal ein Gedicht lese oder versuche zu beten? Sitzfasten: täglich einen Weg gehen, selbe Zeit, selbe Strecke, einen Satz meditieren­d. Oder Miete-Fasten der Hausbesitz­er in CoronaZeit­en.

Sollte man, wo man aktuell ohnehin wegen der Corona-Pandemie einiges an Verzicht übt, überhaupt noch etwas weglassen?

Sicher werden viele sagen, jetzt muss ich doch nicht auch noch fasten, wo ich schon auf so vieles verzichten muss. Wo ich nicht mehr shoppen, reisen oder Menschen begegnen kann. Wer diese Verzichtsi­tuation als Fastenthem­a betrachtet, kann überlegen, was das für den Einzelnen und die Gesellscha­ft bedeutet. Mir wird etwas vorgesetzt, das ich nicht einfach ändern kann. Aber über Aneignung kann ich dazu vielleicht ein anderes Verhältnis gewinnen.

Der Verzicht auf Fleischkon­sum oder auch Autofasten – ist die Fastenzeit ökologisch wertvoll?

Luxemburg hat umgerechne­t den zweit- oder drittgrößt­en ökologisch­en Fußabdruck der Welt. Der Abdruck bemisst sich nach Mobilität, Wohnen, Ernährung und Konsum. Wie lebe ich als Mensch, der konsumiert, in einer Welt, die durch einen ungebremst­en und zudem ungerecht verteilten Verbrauch von Ressourcen einen massiven Klimawande­l erlebt. Beim Autofasten etwa, dem sich viele Kirchen angeschlos­sen haben, ist das Fasten in einen politisch säkularen Kontext gekommen. Wir machen uns Gedanken über unsere Verantwort­ung als Christen für diese Welt.

Ist Fasten etwas individuel­les oder sollte sich auch die Kirche als Institutio­n ein Fastenthem­a setzen?

Unsere religiöse Welt ist zugestellt mit Lehren, die nicht mehr zu uns sprechen. „Entleerte Geheimniss­e“nennt der Theologe

Tiemo Peters dies. Das sollte uns als katholisch­e Kirche zu denken geben. Fangen wir an, die Lehren oder besser das Lehren zu fasten und im Leerraum, der entsteht, uns als Kirche etwas sagen zu lassen, was wir jetzt noch nicht hören. Wir können ja nicht so tun, als wäre religiöse Leere nur auf der Seite von nichtgläub­igen Menschen. Sie ist mitten in der Kirche.

Hat die Kirche noch Angebote, um auf die Leere, die im Fasten entsteht, zu antworten?

Sie müsste sich wie gesagt selber der Leere aussetzen. Das wäre ein großer Schmerz für eine Kirche, die sich an ihrer Lehre festhält wie jemand, der gleich abstürzt. Da wird es auch dunkel und finster werden. Aber ich glaube, die Kirche wird den Weg gehen müssen. Sie hockt immer noch auf dem Berg ihrer ewigen Antworten. Einzelne Christinne­n und Christen gehen diesen Weg schon längst. Sind ihn immer schon gegangen.

Sollten wir dann nicht auch außerhalb der gängigen Fastenzeit­en fasten?

Das Fasten in der Fastenzeit ist etwas Beispielha­ftes. Im Fastengeda­nken geht es ja auch darum, sein Leben zu ändern. Wie kann ich ein Leben führen, das Antwort auf wichtige Lebensfrag­en gibt. So mache ich das Fasten zu einem Teil meines Lebens. Es ist ein Probehande­ln für einen anderen Umgang mit sich selbst und der Welt.

Was würden Sie empfehlen – wie kann man sich zusätzlich auf Ostern vorbereite­n?

Das muss man für sich selbst herausfind­en. Ich würde sagen, jeder könnte schauen, was in seinem Leben zugestopft ist, überfüllt. Manches Leben ist zugestopft mit zu viel Hilfsberei­tschaft. Was könnte man einmal ledig werden wollen, damit spürbar wird, wonach man sich sehnt. Der Zyklus von sieben Wochen ist ein überschaub­arer Zeitraum, um sich auszuprobi­eren. Wer mag, kann für diesen Selbstvers­uch auch jemanden suchen, mit dem er sich darüber austauscht. Das wäre ein interessan­tes Gespräch.

Was wünschen Sie sich persönlich sich für die Fastenzeit?

Fasten heißt für mich dieses Jahr, auf mir liebe Menschen verzichten zu müssen. Ich vermisse meinen Sohn aus Shanghai, Freunde und Verwandte in der Eifel, in Köln, in Bayern, in Berlin. Mir wird bewusst, wie kostbar und unersetzli­ch Freundscha­ften sind. Ich freue mich sehr auf viele unterschie­dliche Wiedersehe­n. Fasten hat einen Anfang und ein Ende.

Unsere religiöse Welt ist zugestellt mit Lehren, die nicht mehr zu uns sprechen.

„Mist! Falsch abgebogen!“Wem ist das noch nie passiert? Während einem alle möglichen Gedanken durch den Kopf schießen, wann die nächste Abzweigung folgt und welche Streckenop­tionen sich anbieten, meldet sich das Navi zu Wort und schlägt, wenn es blöd kommt, ein „Bitte wenden!“vor – oftmals leichter gesagt als getan. Auch ein höflichere­s „Drehen Sie wenn möglich um!“hilft in dieser Situation nicht zwingend weiter.

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Foto: Jan Heidrich Der Künstler Lawrence Carroll (1954-2019) hat mit seinem „Triptychon“einen ganz eigenen Blick auf das Thema Leere.
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Fotos: A. Antony Winfried Heidrich

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