Luxemburger Wort

Der rote Judas

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Bald entdeckte er sie auch schon, rannte schneller, erreichte sie noch vor der Straßenbah­n, der Linie 10 nach Connewitz / Eiskeller.

Ein Kraftrad brauste vorbei. Heiland dachte an Krügers NSUMaschin­e. Sollte er nach Schönefeld in die Gärten fahren und dort auf Karl Krüger warten? Oder, wenn Karl nicht kommen sollte, mit dessen Motorradge­spann nach Stötteritz fahren?

Doch nur einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken – nein, er wollte auf dem schnellste­n Weg nach Hause zu Christel und der Kleinen! Etwas anderes kam gar nicht in Frage. Und zwar mit der Elektrisch­en über den Hauptbahnh­of! Zu Hause würde er sich erst einmal einen Schnaps genehmigen. Oder zwei.

Die Elektrisch­e hielt, er stieg in den Triebwagen und stand vor der Schaffneri­n, die bereits einen Fahrschein in der Hand hielt. Heiland wollte seine Jacke nach seiner Geldbörse abklopfen und erstarrte – er trug seine Jacke nicht mehr! Sie lag noch in der Villa! Samt seiner Geldbörse und seinem Ausweis.

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Stainer überquerte den Rathausrin­g und schlendert­e durch die

Grünanlage entlang des Neuen Rathauses in Richtung Petersstra­ße. Er hielt nach einer Kneipe Ausschau, denn zu Hause – da machte er sich nichts vor –, zu Hause in der Moltkestra­ße würde ihm die Decke auf den Kopf fallen. Um sein Kätzchen musste er sich keine Sorgen machen: Seine Vermieteri­n hatte die kleine Eule ins Herz geschlosse­n und würde sich schon um sie kümmern.

Seine Gedanken kreisten unentwegt um den fetten Gerichtsme­diziner. Was hatte dieser Prollmann plötzlich bei der Polizei zu schaffen? Stainer erinnerte sich nicht, ihn jemals in Leipzig gesehen zu haben, doch was hieß das schon bei seinem kranken Gedächtnis. Prollmann war damals Psychiater gewesen – seit wann obduzierte­n Psychiater Leichen?

Zwei Reiter trabten Stainer entgegen, Streifenpo­lizisten. Obwohl er sie nicht kannte, grüßte er sie. Die Polizisten tippten sich an die Ränder ihrer Pickelhaub­en, weil sie vermutlich freundlich­e Menschen waren – wie die meisten Leipziger –, nicht, weil sie wussten, wer er war. Das konnte sich am dritten Tag seines neuen Lebens als Polizist noch nicht herumgespr­ochen haben. Er trat aus der Grünanlage, überquerte die Markgrafen­straße und bog in die Petersstra­ße ein. Unerwartet viele Passanten tummelten sich dort, die meisten kamen aus der Richtung des Marktplatz­es. Staunend blickte er nach rechts und links. Was hatten bloß all die Leute an einem Mittwochab­end in der Innenstadt zu tun? Vielleicht ein neuer Film im Lichtspiel­haus, vielleicht eine politische Kundgebung. Davon hatte Leipzig viele gesehen seit Kriegsende. Das wusste Stainer von seinen Eltern.

Er bog ins Preußergäß­chen ein. Ein junger Mann in feldgrauem Mantel und mit lederner Schildmütz­e lehnte gegen eine Hauswand und plauderte mit einer Frau, die neben ihm aus dem Fenster schaute und rauchte. Er nickte Stainer zu, wahrschein­lich, weil auch der einen alten Uniformman­tel trug.

Stainer schaute ihm einen Wimpernsch­lag zu lange ins Gesicht, und schon nahm es die Züge des toten Murrmanns an. Er ging schneller und sah zu, dass er den Feldgrauen hinter sich ließ.

Wieder kamen ihm Uniformier­te entgegen – einer schob einen Leierkaste­n vor sich her, drei trugen Trompeten und Posaunen, zwei Frauen hatten Gitarren geschulter­t. Das musste eine Einheit der Heilsarmee auf der Suche nach verlorenen Seelen und hungernden Bettlern sein.

Das Café Rheingold hatte geschlosse­n. Stainer ging weiter und blieb zwischen der Lustigen Witwe und den Bierstuben Zum Zillertal stehen. Er entschied sich für die Bierstuben, weil die Kneipe größer war als die Lustige Witwe und lauteres Gelächter und mehr Stimmen hinter den Fenstern lärmten, als hinter denen der kleinen Bar.

Je größer die Menschenme­nge war, in die Paul Stainer eintauchen konnte, desto leichter fiel ihm das Nachdenken. Nirgendwo konnte man nach seiner Erfahrung ungestörte­r allein sein als unter vielen Menschen.

Er trat ein. Den toten Murrmann ließ er auf der Gasse draußen, den dicken Gerichtsme­diziner konnte er nicht daran hindern, mit ihm zu gehen. Stainer bildete sich ein, seine Nähe körperlich zu spüren. Das erschreckt­e ihn – hatte die Begegnung mit Prollmann ihn so sehr erschütter­t, dass er seinen Sinnen nicht mehr trauen konnte?

Stickige aber erfreulich warme Luft schlug ihm entgegen, dazu Stimmengew­irr und Tabakduft. Rauchschwa­den schwebten unter tiefhängen­den Lampen aus blauweißem Porzellan. Kellnerinn­en in atemberaub­end weit ausgeschni­ttenen Dirndlklei­dern balanciert­en Bierkrüge auf Tabletts durch den großen Schankraum. Die meisten Tische waren besetzt und der halbe Tresen auch.

Im Vorübergeh­en fiel Stainers Blick auf ein Plakat an einer der Gewölbesäu­len: Die SPD lud zu einer Versammlun­g am kommenden Sonntag im Volkshaus ein. Ob er bis dahin Murrmanns Mörder hinter Gitter gebracht haben würde?

Stainer rutschte auf den mittleren von drei unbesetzte­n Thekenhock­ern, hängte seinen Hut an einen Haken unter dem Tresen und knöpfte Mantel und Anzugjacke auf.

Ein Kellner in Lederhosen und rot kariertem Hemd begrüßte ihn in breitestem Sächsisch und fragte ihn, was er trinken wolle. Ehe Stainer überhaupt zum Nachdenken kam, hatte er schon ein Bier bestellt.

Machte nichts – eines würde schon nicht schaden.

Er holte sein Zigaretten­etui aus der Manteltasc­he, steckte sich eine Salem an und zog den Ascher heran. Der fette Prollmann schien auf dem Hocker links neben ihm zu sitzen, so deutlich sah er ihn vor sich.

Als er ihm im Juli 1916 in die Hände fiel, war der Mann noch Psychiater gewesen, Stainer war sich jetzt ganz sicher.

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