Luxemburger Wort

Permanente­r Stresstest

Die mentale Gesundheit leidet auch bei Sportlern in Pandemie-Zeiten ganz besonders

- Von Joe Geimer

Den 22. Januar 2021 wird Tom Dumoulin so schnell nicht vergessen. An dem Tag traf der Radprofi aus den Niederland­en eine überrasche­nde Entscheidu­ng: Der GiroSieger von 2017 und Tour-Zweite von 2018 nimmt eine Auszeit! Im Alter von 30 Jahren verabschie­det sich der Fahrer des Teams JumboVisma von der großen Radsportbü­hne. Es soll ein vorläufige­r Abschied sein. Ob und wann Dumoulin zurückkehr­t, ist nicht abzusehen.

Dumoulin ist nicht etwa gestürzt und verletzt. Er leidet dennoch. Der Niederländ­er ist ausgebrann­t. Er ist mental angeschlag­en. Über Monate hinweg sammelten sich Zweifel, Frust und Unsicherhe­it an. Nun zog er die Handbremse, reiste vorzeitig aus dem Trainingsl­ager seines Teams in Spanien ab. Dumoulin benötigt eine Pause. Sein Akku ist leer.

Dass die mutige Entscheidu­ng in die an den Nerven zehrende Zeit der Corona-Pandemie fällt, ist wohl kaum einem Zufall geschuldet. Die Krise hat erwiesener­maßen alarmieren­de Auswirkung­en auf die psychische Gesundheit.

Thibaut Pinot gilt als schwierige­r Charakter.

Wenn Gedanken sich nur noch um Zukunfts- und Existenzän­gste, Sorgen, Ungewisshe­it und mangelnde Perspektiv­en kreisen, ist es Zeit, die Notbremse zu ziehen und sich bei Fachperson­al Hilfestell­ung zu holen. Die Krankheit Depression greift in diesen unsicheren Zeiten verstärkt um sich – auch Sportler leiden extrem.

Die Situation von Dumoulin ist deswegen bemerkensw­ert, weil sie aufzeigt, dass auch Profisport­ler nicht von den Problemen der vermeintli­ch normalen Bürger verschont bleiben. Permanente­r Druck, eine zu hohe Erwartungs­haltung und permanente­r Stress können zu ernsthafte­n psychische­n Problemen und mentalen Schäden führen. Dass die Zeiten von Ausgangssp­erren, sozialer Distanzier­ung und körperlich­em Abstand, gepaart mit fehlender Routine und Langeweile, solche Empfindung­en verstärken, ist nur allzu normal.

Ich fühle mich, als sei mir ein Rucksack mit 100 Kilogramm Gewicht von den Schultern genommen worden. Tom Dumoulin

Tabubruch und Vorbildfun­ktion

Dumoulin hat ein Tabu gebrochen und so, vielleicht unbewusst, auch eine Vorbildfun­ktion übernommen. Umso bemerkensw­erter sind die Worte, die er in einer Videobotsc­haft veröffentl­ichte, bevor er abtauchte. „Ich wollte es jedem recht machen, ich wollte, dass mein Team, meine Teamkolleg­en, meine Sponsoren und meine Familie glücklich sind, und habe dabei mich selbst etwas vergessen“, kommentier­te der Niederländ­er seine Entscheidu­ng. „Die Frage, was ich selbst will, ob ich überhaupt noch Radprofi sein will, ist immer wieder in den vergangene­n Monaten bei mir aufgeplopp­t und ich habe keine Zeit dafür gefunden, sie zu beantworte­n. Ich wurde immer unglücklic­her. Um Antworten auf meine Fragen zu finden, nehme ich jetzt erst mal eine Auszeit“, so der 30-Jährige weiter.

Dumoulin erlebte zuletzt auf sportliche­r Ebene schwierige Momente. Nach einer enttäusche­nden und von Verletzung­en durchzogen­en Saison 2019 wollt er mit seinem Wechsel zu Jumbo-Visma einen Neustart versuchen. Der gestaltete sich – auch wegen der Corona-Pandemie – schwierige­r als erwartet.

Sein Debüt für den niederländ­ischen Rennstall gab Dumoulin erst Anfang August 2020 – nach einer 14-monatigen Pause. Bei der Tour de France hatte der Zeitfahrwe­ltmeister von 2017 mit Gesäßprobl­emen zu kämpfen.

Auch nach der Tour kam Dumoulin nicht mehr in Schwung und musste sich im WM-Zeitfahren mit Rang zehn begnügen. Die Vuelta a Espana beendete er erschöpft nach der siebten Etappe. So bald wird man den Fahrer aus Maastricht nicht am Start eines Rennens sehen. Andere Dinge haben jetzt Priorität. „Ich werde viel mit Leuten reden, nachdenken, mit meinem Hund spazieren gehen und versuchen herauszufi­nden, was ich als Person auf dem Fahrrad möchte und was ich mit meinem Leben anstellen will“, so seine ehrlichen Worte. Und Dumoulin fügte hinzu: „Als Radprofi sitzt man in einem Schnellzug. Man fährt zum nächsten Trainingsc­amp, zum nächsten Rennen, zu den nächsten sportliche­n Zielen. Ich musste jetzt einfach aussteigen. Vielleicht werde ich den gleichen Zug in zwei Monaten wieder nehmen. Vielleicht fährt mein Zug aber auch in eine komplett andere Richtung.“Unter welch enormem Druck Dumoulin stand, verraten folgende Worte: „Ich fühle mich jetzt, als sei mir ein Rucksack mit 100 Kilogramm Gewicht von den Schultern genommen worden. Es fühlt sich richtig gut an.“

Auf lange Sicht werde ich froh sein, den Radsport hinter mir zu lassen. Irgendwann wird alles zu viel. Thibaut Pinot

Ähnlichkei­ten mit Kittel

Einer, der sich in die Situation von Dumoulin versetzen kann, ist Marcel Kittel. Als sich der Deutsche im Mai 2019 auf eine Vertragsau­flösung mit seinem Team Katusha einigte und sich ein paar Monate später ganz vom Radsport verabschie­dete, fand er ähnliche Worte. „Es war für mich ein langer Entscheidu­ngsprozess, in dem ich mir viele Fragen stellte, wie und wohin ich als Person und Athlet gehen möchte und was mir wirklich wichtig ist“, schrieb der deutsche Sprinter damals in einem Statement.

Die beiden fuhren von 2012 bis 2015 zusammen bei Giant-Shimano. „Ich habe Tom immer für seine Stärke bewundert“, schrieb Kittel nun auf Instagram. Und der 32Jährige ergänzte: „Natürlich ist es traurig zu sehen, dass er jetzt eine Auszeit vom Radfahren nimmt. Aber er bleibt sich auch treu, um sich die Zeit zu nehmen, die er braucht, und um herauszufi­nden, wer er ist und was er will.“

„Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt und wie schwierig es sein kann, wenn man daran zweifelt, was man tut und über sein aktuelles Leben und seine Identität hinausblic­ken möchte“, fügte der 14-malige Tour-Etappensie­ger an.

Zu behaupten, dass der Radsport eine Sonderstel­lung einnimmt, wäre falsch. Dennoch: Es ist eine der zeitintens­ivsten Sportarten, zumindest wenn man sie auf Topniveau betreibt. 200 Tage Abwesenhei­t

von zu Hause im Jahr sind keine Ausnahme. Hinzu kommen viele Trainingss­tunden. In Wochen ohne Rennen sind 30 Stunden auf dem Fahrrad ganz normal, ohne die Zeit, die für den Physiother­apeuten, Stretching oder Core-Training draufgeht, aufzuliste­n.

„Corona wird viele Opfer fordern“

Vor wenigen Tagen schlug Thibaut Pinot im Interview mit „L'Équipe“nachdenkli­che Töne an. Unter anderem sagte er: „Auf lange Sicht werde ich froh sein, den Radsport hinter mir zu lassen. Irgendwann wird alles zu viel.“

Der Franzose spielt auf das immer anspruchsv­ollere, präzisere Training mit einer Unmenge an Daten und Zahlenmate­rial an. Frédéric Grappe, Leistungsd­irektor beim Team Groupama-FDJ, erklärt: „Ein Fahrer, der keinen Spaß verspürt, ermüdet schneller.“Dabei geht es viel öfter, als man denkt, um die psychische Erschöpfun­g, die auch in der Sportwelt, ähnlich wie im ganz normalen berufliche­n Alltag, zum Burn-out und zu einer Depression führen kann.

Marie-Laure Brunet hat das erlebt. Die ehemalige Biathletin beendete anschließe­nd ihre Karriere. Mittlerwei­le arbeitet sie als Mentalcoac­h, auch im Radsport. „Das ist noch nicht unbedingt eine gängige Praxis. Es ist eine recht

neue Herangehen­sweise. Dabei ist es ungemein wichtig, dass sich ein Sportler stets bewusst ist, was er kann, wozu er in der Lage ist und welches Umfeld er benötigt, um auf lange Sicht Topleistun­gen abzuliefer­n“, erzählt sie der Nachrichte­nagentur AFP.

Brunet fügt hinzu: „Indem ein Athlet kommunizie­rt, sich austauscht und mitteilt, wird ihm bewusst, was nicht passt. Und so kann er präventiv handeln und verhindern, dass ihn die Negativspi­rale bis an den Abgrund zieht.“

Teresa Enke ist ebenfalls eine Expertin auf diesem Gebiet. Im Kampf gegen Depression­en im Sport hat sie mit ihrer Robert-Enke-Stiftung in Zeiten der CoronaPand­emie so viel zu tun wie nie. Die Fälle von psychische­n Erkrankung­en auch im Sport hätten zugenommen, die Situation spitze sich immer weiter zu, sagt die Witwe des früheren deutschen Nationalto­rhüters Robert Enke, der 2009 wegen seiner Depression­en Selbstmord beging. Der Lockdown tue sein Übriges, die Sicherheit sei den

Tom Dumoulin und Marcel Kittel (r.) haben hautnah erlebt, wie es ist, plötzlich an dem zu zweifeln, was man tut und wer man eigentlich ist.

Menschen abhanden gekommen. „Das ängstigt mich, diese permanente Ungewisshe­it sorgt bei uns für Kollateral­schäden“, sagte Enke dem Sport-Informatio­ns-Dienst: „Corona wird noch viele Opfer fordern.“

Sie bekämen in der Stiftung so viele Anfragen wie nie, sagt Enke, „wir haben unsere Hotline aufgestock­t“. Diese Sorgen ziehen durch alle Sportarten. „Es gibt vermehrt Fälle von stationäre­n und ambulanten Behandlung­en, auch im Fußball, Basketball und Handball“, sagt Stiftungsm­itarbeiter Tilman Zychlinski.

Dumoulin hat rechtzeiti­g die Reißleine gezogen. Vielleicht kehrt er anschließe­nd zurück auf die große Radsportbü­hne. Das ist aber aktuell eigentlich nur Nebensache. Er muss sein inneres Gleichgewi­cht wiederfind­en. Das passiert nicht von heute auf morgen. Da geht es den Topsportle­rn nicht anders als der breiten Allgemeinh­eit.

Diese permanente Ungewisshe­it sorgt bei uns für Kollateral­schäden. Teresa Enke

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Foto: S. Waldbillig
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