Langsamer, sicherer, sauberer
Seit dem 1. Januar gilt in Brüssel eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h – die erste Bilanz fällt überwiegend positiv aus
Entlang des Brüsseler Kanals, der den Stadtkern von den Arbeitervierteln Molenbeek und Anderlecht trennt, sind nächtliche Autorennen keine Seltenheit. Und auch ohne Wettstreit wird auf diesen Straßen, die sich in den bevölkerungsreichsten Gegenden Brüssels befinden, gerne gerast. Doch seit dem ersten Januar 2021 hat dieses Phänomen deutlich abgenommen. Und im allgemeinen wirken die Straßen entspannter, die Fahrer aufmerksamer und die Fußgänger etwas weniger beängstigt. Der Grund: In Brüssel ist seitdem die Höchstgeschwindigkeit von 30 Stundenkilometern – bis auf wenige Ausnahmen – zur Norm geworden. Konkret geht es dabei um 85 Prozent des Brüsseler Straßennetzes.
Für Elke Van den Brandt, die Transportministerin der Region Brüssel, hat die Stadt dabei viel zu gewinnen. Zum einen wird die belgische Hauptstadt dadurch viel sicherer. Alleine 2019 starben 20 Menschen auf den Brüsseler Straßen. Durch Temporeduzierungen wird das Risiko, bei einem Autounfall getötet oder schwer verletzt zu werden, aber drastisch verkleinert: Liegt es bei 45 Prozent wenn man mit 50 Stundenkilometern fährt, sind es mit einer Geschwindigkeit von 30 Stundenkilometern nur noch 15 Prozent, so die Ministerin. Für Fußgänger wird die Todesgefahr dabei sogar durch fünf geteilt, da Autofahrer mehr Zeit zum reagieren haben und Fußgänger auch besser sehen. Als Vorbilder gelten dabei Städte wie Helsinki oder Madrid, in denen die rezente Temporeduzierung die Opferzahlen auf den Straßen drastisch reduziert haben. Außerdem wird die Stadt dadurch viel angenehmer für Einwohner und Besucher, so die grüne Politikerin: Weniger Geschwindigkeit bedeutet auch weniger Lärm.
Erste Erkenntnisse
In der Theorie klingt die Maßnahme demnach sehr verlockend, doch was bringt sie tatsächlich? Die erste Zwischenbilanz der Regionalregierung liefert bereits erste Antworten auf diese Frage: Schon nach zwei Monaten zeigt sich, dass die Brüsseler Autofahrer im Schnitt ihre Geschwindigkeit um neun Prozent reduziert haben – auch dort, wo noch 50 Stundenkilometer erlaubt sind. Doch, und das findet Elke Van den Brandt ausschlaggebend, „ist dadurch aber keine Verlängerung der Fahrzeiten feststellbar“. Win-Win also, meint die Regionalregierung. Stichproben zeigen außerdem, dass sich 97 Prozent der Fahrer an die neuen Regeln halten.
In den nächsten Monaten sollen weitere Daten hinzukommen, um das neue Tempo-Limit ausgiebiger auszuwerten: Für April erwarten die Behörden die ersten Zahlen zu den Folgen der Temporeduzierung auf die Sicherheit der Fahrer und Fußgänger. Doch sind die ersten feststellbaren Resultate zum Fahrbenehmen durchaus ermutigend. Besonders, da die Regierung bislang weitgehend auf erhöhte Radarkontrollen verzichtet hat. „In einer ersten Phase geht es uns darum, pädagogisch zu sein und nicht sofort jeden zu bestrafen“, so Van den Brandt.
Offenbar zufrieden
Die Ministerin ist demnach zufrieden mit der ersten Zwischenbilanz. Aber auch viele Brüsseler mögen es offenbar, wenn Autos etwas langsamer in ihrer Stadt unterwegs sind. Eine Bürgerinitiative namens „I LOVE BRU=30“produziert derzeit T-Shirts und Fahrradvesten mit Herzen und 30-Stundenkilometer-Straßenschilder als Motiv. Und in der wohlhabenden Gemeinde Woluwe-Saint-Pierre haben die Einwohner mit überwältigender Mehrheit dafür plädiert, dass einige der Ausnahmen zur 30 km/h-Regel schnell abgeschafft werden. Auch wirtschaftlich erwartet sich die Regionalregierung dadurch einen Aufschwung: „Wird die Stadt angenehmer für Fußgänger, werden
Leute sich auch hier länger zum Shoppen aufhalten“, so Van den Brandt.
Einige Autofahrer sind entsetzt
Doch gibt es nicht nur Begeisterung für die Änderungen, die in Brüssel derzeit stattfinden. Auf den sozialen Netzwerken ist die Aufregung gegen diese vermeintliche Anti-Auto-Politik besonders laut. Und es hat sogar schon kleine Demos gegen „Bruxelles zone 30“gegeben. Dabei geht es aber meistens nicht um diese präzise Maßnahme, sondern um etwas viel Allgemeineres.
Denn tatsächlich ist die verallgemeinerte Temporeduzierung nur ein Element einer Verkehrswende, bei der es darum geht, „die Aufteilung des öffentlichen Raums etwas gerechter zu gestalten“, so die regionale Verkehrsministerin Van den Brandt. Ihr Gedankengang ist dabei klar: Zwischen 1930 und 1980 wurde bei der Brüsseler Stadtplanung das Auto absolut priorisiert – nun sollen aber Fußgänger und Radfahrer endlich ein Stück vom öffentlichen Raum zurückkriegen. Für Van den Brandt hätten – ironischerweise – ausgerechnet die Autofahrer etwas dabei zu gewinnen: Ihr Ziel ist es, Alternativen zum Auto zu fördern, damit 20 Prozent der Leute auf ein anders Transportmittel umsteigen. „Für die restlichen Autofahrer gibt es dann mehr Platz“. WinWin also. Schon wieder.
Doch hinter dieser Win-WinLogik steckt auch ein Umverteilungsgedanke. Laut dem Statistikinstitut Statbel besitzen nicht einmal die Hälfte der Brüsseler Familien ein Auto. In ärmeren Vierteln sind sogar 70 Prozent der Haushalte autolos. Doch sind es ausgerechnet diese Bevölkerungsgruppen, die am meisten unter dem Lärm und der Verschmutzung rund um den Stadtkern leiden, so die Regionalregierung. „Die Luftqualität ist derzeit nicht demokratisch verteilt“, sagt Van den Brandt. Demnach lässt die grüne Ministerin das Argument nicht gelten, wonach sie nur Politik für linksliberale Mittelschichten machen würde.
Auch der umstrittene Plan der Regionalregierung für die Einführung einer „Kilometersteuer“geht in diese Richtung. Die Idee dahinter ist, die KFZ-Steuer durch eine Steuer zu ersetzen, die das tatsächliche Nutzen des Autos widerspiegelt und dadurch auch fairer und gezielter sein wird: Der
Preis soll dabei von der Uhrzeit der Fahrten und dem Fahrzeugtyp abhängig sein. Je leistungsstärker ein Fahrzeug ist, desto teurer wird die Rechnung. Dadurch werden Fahrzeuge unattraktiver, die für den Stadtverkehr ungeeignet sind. Um Staus weiter zu verhindern, variiert der Preis auch nach Tageszeit: Das Fahren während der Stoßzeiten wird teurer sein. Und natürlich: Je mehr ein Fahrer in Brüssel fährt, desto höher ist der Preis.
Regionale Steuerfairness
Die Regionalregierung erhofft sich dabei, dass die Brüsseler, die unter dem Lärm und der schlechten Luftqualität leiden, etwas entlastet werden und die wohlhabenden Pendler aus der Peripherie, die dort ohnehin von besseren Wohnbedingungen mit Garten profitieren, etwas mehr für das Nutzen der Infrastruktur in Brüssel zahlen. Geht der Plan auf, wird es bald weniger Stau in Brüssel geben, dafür aber mehr Steuereinnahmen, die ansonsten in den benachbarten Regionen Flandern und Wallonie stecken bleiben.
Und auch wenn die Rechnung nicht aufgeht, war es wenigsten ein Versuch. Denn Brüssel und Belgien haben kaum eine Wahl – es muss schleunigst in Richtung Verkehrswende gehen. Die ständigen Staus sind für das Land nämlich nicht nur unökologisch, sondern auch sehr teuer: Die OECD, ein Club reicher Industriestaaten, hat berechnet, dass Belgien alleine durch Staus jährlich zwischen vier und acht Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung verliert. Luxemburg ist in einer ähnlichen Lage: Laut der EU-Kommission verliert das Großherzogtum jährlich bis zu 1,4 Milliarden Euro im Stau. Dabei ist das Land deutlich kleiner als Belgien.
Brüssel soll angenehmer und sicherer für Fußgänger werden. Elke Van den Brandt