Der rote Judas
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An einer Sammelstelle für Leichtverwundete hatte er ihn aus Hunderten Männern geangelt und zu einem Lazarett auf einem Schloss in einem kleinen Ort namens Vélu bringen lassen.
Warum? Weil die Feldärzte im Sammellager keinerlei Verletzungen an ihm gefunden hatten. Stainer hatte aus keiner Wunde geblutet, hatte nur ein bisschen gezittert. Und ein bisschen gekrampft. Und ein bisschen halluziniert. Und ja – laufen konnte er auch nicht mehr richtig.
Der Lederhosenmann stellte das Bier vor ihn hin und sagte:
„Zum Wohl, der Herr.“Stainer dankte und nahm einen kräftigen Schluck. Schloss Vélu, dachte er, eigentlich ein schöner Name.
War er damals nicht auch ein bisschen taub gewesen? Er schüttelte den Kopf, denn das war nun bedeutungslos, und nahm noch einen Schluck. Er konnte wieder hören, konnte auch wieder laufen und vor allem: Er war wieder Polizist. Und dieser Prollmann hatte hoffentlich ein ähnlich miserables Gedächtnis wie er. Wenn sich etwas zum Vergessen eignete, dann doch wohl der Krieg, oder? Der Krieg, eine treulose Frau und einer wie Prollmann. „Prost“, murmelte Stainer und trank noch einen Schluck Bier.
Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass vom linken Ende der Theke jemand zu ihm herüberstarrte. Das machte ihn nervös, er selbst blickte nach rechts und tat, als würde er das Gemälde an der Türwand betrachten, eine Berglandschaft mit Hirsch, zwei Jägern und Bergsee. Bleib bloß auf deinem Thekenhocker sitzen, dachte er, komm bloß nicht auf den Gedanken, mich anzusprechen.
Das Gemälde war ganz hübsch, ein bisschen kitschig vielleicht, doch man konnte sich so richtig hineinsinken lassen. Stainer betrachtete die zahlreichen Einzelheiten – den See, die Hüte der Jäger, ihre Gewehre, die Wolkenformationen, ihre Spiegelungen im See, die Eichen auf der Bergwiese –, er verlor sich in ihnen und stellte sich vor, einer der Jäger zu sein.
Besonders gut gefiel ihm der Hirsch, ein schwarzbrauner Koloss mit einem Geweih lang wie Geschützrohre. Dieser Koloss bewegte sich plötzlich, und zwar auf ihn zu!
Stainer hielt den Atem an. War es eben noch taghell über See, Bergwiese und Hirsch gewesen, verschwanden Sonne und Wolken nun von einem Augenblick auf den anderen, und jäh brach dunkelste Nacht über die idyllische Landschaft herein. Blitze zuckten, Donner grollte, der Thekenhocker schien zu erbeben. Stainer schloss die Augen. Nein, das war kein Gewitter – Granaten detonierten, explodierende Geschosse verursachten die Blitze, und er, der Jäger,
wurde zum Gejagten und stürzte sich in den See.
Stainer schwamm wieder um sein Leben. Flammen erhellten plötzlich die Nacht, und Flammen loderten, wohin er sich wandte. Überall donnerte, rauschte, heulte und krachte es. So schnell er konnte, schwamm er auf die Umrisse eines Bootes zu. Seine Kleider, schwer von Wasser, drohten ihn zum Seegrund hinabzuziehen. Er blickte hinter sich – im Schein der Flammen glitt der Koloss ins Wasser, blökte, röhrte und brüllte. Seine Geschützrohre richteten sich auf Stainer, Schusslärm knatterte jetzt rings um ihn, zerwühlte den See. Kein Hirsch, eine monströse Maschine pflügte durchs Uferwasser, ein englischer Panzer. Handgranaten detonierten, schwarzer, stinkender Qualm hüllte Stainer ein.
Der zweite Jäger beugte sich aus einem überfüllten Boot und streckte die Hand nach ihm aus. „Greif zu, Paul, greif doch zu!“Eine Granate rauschte heran und Stainer griff nach der Hand des Hauptmanns, umklammerte sie, hielt sie fest, war entschlossen, sie nie wieder loszulassen …
„Herr Major?“
Er riss die Augen auf, ließ das fest umklammerte Bierglas los, fuhr herum. Ein Mann stand neben dem Thekenhocker links von ihm, hemdsärmelig und mit Krawatte, Weste und Hut. Eugen Brand.
„Ich hätte nicht gewagt, Sie zu stören, Herr Kommissar, doch sie schwankten plötzlich und ich hatte Sorge, Sie könnten kollabieren und vom Barhocker stürzen.“
„Kriminalinspektor. Ich fall von keinem Hocker.“Verwirrung und Scham überwältigten Stainer, er schaute sich um – der Lederhosenkellner sah schnell weg, bevor ihre Blicke sich treffen konnten. „Mir geht es gut“, Stainer wandte sich wieder an Brand. „Lassen Sie mich in Ruhe.“
„Es ist warm hier, nicht wahr?“Brand musterte ihn besorgt.
„Sie sollten den Mantel ausziehen, Herr Kriminalinspektor Stainer.“
„Und Sie sollten mich in Ruhe lassen, Herr Doktor.“Stainer wischte sich den Schweiß von der Stirn, der war klebrig und kalt. Irgendwie hatte er kein Glück mit Ärzten. Er blickte wieder zum Bild hin – eine Berglandschaft mit Hirsch, Jägern, Bergsee und Wolken, weiter nichts. Er griff nach seinem Bier und leerte das halbe Glas mit einem Zug.
„Ich kann nachfühlen, wie hart es für Sie sein muss.“Brand, der nun mit gedämpfter Stimme sprach, zog den Thekenhocker heran und setzte sich neben Stainer. „Wenn ich gewusst hätte, dass Sie leben, wenn Edith nicht ganz und gar von Ihrem Tod überzeugt gewesen wäre – ich hätte mich doch niemals auf Ihre Frau eingelassen!“Stainer wusste nicht, wohin mit sich. Am liebsten hätte er laut geschrien.
„Bitte hören Sie mir zu, Herr Inspektor Stainer.“Jetzt beugte der Kerl sich auch noch zu ihm herüber. „Ich war in einer Aus- nahmesituation, glauben Sie mir.“Zu allem Überfluss holte die Lederhose Brands Weinglas vom Ende der Theke und stellte es vor ihn hin. Es war fast leer.
Stainers Blick fiel auf den Hut des Mannes, der sich ungefragt neben ihn gesetzt hatte – ein moderner Fedora, hellgrau wie seiner. Fassungslos und wütend zugleich drückte er seine Zigarette aus und griff wieder nach seinem Bierglas.
„Meine Frau und ich, wir hatten zwei Söhne. Beide sind am selben Tag gefallen. An der Marne, im April 15.“Jetzt erst merkte Stainer, dass Brand mit schwerer Zunge sprach.