Luxemburger Wort

Ein ungesühnte­s Verbrechen

Homejackin­g-Prozess: Erst der Schriftsat­z bringt Klarheit ins Urteil von vorvergang­ener Woche

- Von Steve Remesch

Luxemburg. Es mutet kurios an, ergibt aber Sinn: Eine Urteilsver­kündung in einem Strafproze­ss beginnt in den meisten Fällen mit einem Freispruch. Der Angeklagte wird von jenen Tatvorwürf­en, die ihm nicht nachweisli­ch angelastet werden können, freigespro­chen. Erst dann folgt, gegebenenf­alls, die Verurteilu­ng – wegen der Verbrechen und Delikte, die die Richter zu seinen Lasten zurückbeha­lten haben – und das Strafmaß.

Jeweils 15 Jahre lautet dieses etwa vergangene Woche in erster Instanz für zwei Männer aus Paris, denen die Staatsanwa­ltschaft drei Homejackin­gs und mehrere Einbrüche im Jahr 2017 in Luxemburg vorwirft. Welche der insgesamt neun Tatvorwürf­e die Kriminalka­mmer letztlich als erwiesen ansieht und welche nicht, bleibt bei der Urteilsver­kündung unklar.

Als einer der beiden Beschuldig­ten bemängelt, dass er nicht verstanden habe, wessen er nun für schuldig befunden wurde, verweist die vorsitzend­e Richterin ihn auf das schriftlic­he Urteil, das nun mehr als eine Woche später auch dem „Luxemburge­r Wort“vorliegt. Eine Analyse des Schriftsat­zes zeigt, dass Richter auch in komplexen Indizienpr­ozessen, wo der richterlic­hen Überzeugun­g entscheide­nde Bedeutung zukommt, nicht einfach nur dem Anschein von Schuld folgen, sondern dort Grenzen setzen, wo die Strafverfo­lgung Beweise schuldig bleibt.

Freispruch für Hesperinge­n-Tat

Die Folge: Opfer von Straftaten können mit ihrem Wunsch nach Gerechtigk­eit und Sühne beim Recht auf der Strecke bleiben. So auch in diesem Homejackin­g-Prozess. Von den drei Überfällen, um die es im Verfahren geht, wird nämlich einer nicht zurückbeha­lten: Zwei Männer dringen am 29. Januar 2017 kurz vor Mitternach­t in ein Einfamilie­nhaus in der Route de Thionville in Hesperinge­n ein. Dort bedrohen sie eine junge Mutter und deren zwei schlafende Kleinkinde­r mit einem Messer, sie schlagen die Frau mit einer Pfefferspr­ayflasche von der Größe eines Handfeuerl­öschers auf den Kopf und erzwingen so die Herausgabe von Wertsachen.

Während der erste Beschuldig­te, Yasinne E., für diese Tat ein Alibi vorweisen kann – er genießt zu diesem Zeitpunkt die Gastfreund­schaft einer französisc­hen Haftanstal­t – sehen die Richter nun auch Zweifel an der Tatbeteili­gung von Bilal H., dem zweiten Beschuldig­ten. Es gebe kein Element im Dossier, das belege, dass sich Bilal H. zur Tatzeit tatsächlic­h in Luxemburg aufgehalte­n hat. Die alleinige Täterbesch­reibung des Opfers reiche nicht aus, um eine Tatbeteili­gung zu belegen und auch das Auto, das in Tatortnähe aufgefalle­n sei, habe nicht als jenes identifizi­ert werden können, das H. zur damaligen Zeit benutzt habe.

Tatsächlic­h ist es so, dass für alle Taten, welche die Richter in ihrem Urteil zurückbeha­lten, eine Auswertung der Handydaten der Beschuldig­ten in die Indizienke­tte aufgenomme­n wurde. Daraus geht hervor, dass sie jedes Mal zur Tatzeit

von Paris nach Thionville gekommen sind. Zudem hat sich gezeigt, dass die Verdächtig­en ihre Handys vor dem Grenzübert­ritt nach Luxemburg aus- und bei ihrer Rückkehr wieder einschalte­n.

Da die beiden Tatverdäch­tigen aber erst mehr als elf Monate nach der Tat in Hesperinge­n ins Visier der Ermittler geraten, können die Mobilfunkd­aten nicht mehr nachvollzo­gen werden. Diese werden nämlich aus Datenschut­zgründen nach sechs Monaten gelöscht.

Einen Freispruch gibt es für die Angeklagte­n auch bei einem der vier Einbrüche, die ihnen in der

Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November 2017 vorgeworfe­n wurden. Im Gegensatz zu anderen Taten haben die Täter hier weder Fußspuren hinterlass­en, die ihnen zugeordnet werden können, noch sind sie auf Überwachun­gsvideos zu erkennen. Im Urteil halten die Richter fest, dass die zeitliche und räumliche Nähe zu anderen Taten als Schuldnach­weis nicht ausreicht.

Die Überzeugun­g der Richter

Die von den Ermittlern erstellte Indizienke­tte bei den Homejackin­gs in Belair und Strassen lässt für die Kriminalka­mmer keinen Zweifel an der Schuld von Bilal H. und Yassine E., obwohl die Beschuldig­ten die Taten vehement bestreiten.

In einem Strafproze­ss liegt es in der Hand der Staatsanwa­ltschaft, die Beweislast zu erbringen. Bei der Klärung der Schuldfrag­e gesteht die Strafproze­ssordnung den Richtern aber die Freiheit zu, Beweise frei einzuschät­zen und ihre feste Überzeugun­g ebenso frei anhand aller Elemente aus dem Verfahren zu bilden. Kurz: Wenn materielle Beweise

fehlen, kann das Gericht einen Angeklagte­n auch aufgrund von Indizien verurteile­n, wenn diese keinen Zweifel an der Schuld lassen.

Darauf beruft sich die Kriminalka­mmer auch in ihrem Urteil im Homejackin­g-Prozess. Beim Überfall auf das über 80-jährige Ehepaar am 25. Oktober 2017 in Belair, sehen die Richter etwa keinen Zweifel daran, dass die beiden Beschuldig­ten die späteren Opfer in einem Einkaufsze­ntrum am Stadtrand regelrecht beschattet haben. Außerdem werten sie die DNSSpur von Yassine E. auf der Weste eines der Opfer im Kontext der gesamten Ermittlung­serkenntni­sse als erdrückend­en Beweis. Diese Spur könne kein Produkt des Zufalls sein und müsse beim Überfall übertragen worden sein, heißt es im Urteil.

Zu viele Übereinsti­mmungen

Auch beim Raubüberfa­ll auf eine 74-jährige Frau am 17. Dezember 2017 in Strassen bleiben trotz fehlender handfester Beweise die Indizien Trumpf. Die Angeklagte­n waren in der Gegend, ihr Wagen wurde von Zeugen in der Nähe des Tatorts gesehen. Die Beschreibu­ng des Opfers passt perfekt auf die Ausrüstung, welche die Schweizer Polizei bei einer Kontrolle der Angeklagte­n sicherstel­lte. Auf dem Handy von Bilal H. wird das Foto einer Uhr entdeckt, ein Einzelstüc­k, das beim Raub entwendet wurde. Und die Vorgehensw­eise bei dieser Tat passt in das übliche Tatmuster der Angeklagte­n.

Auch wenn diese Elemente für sich kaum Beweiskraf­t hätten, stünden sie aber in einer derartig klaren Verbindung, dass sie keinen Zweifel an der Täterschaf­t der Angeklagte­n lasse, befinden die Richter.

In ihrem Urteil halten sie neben den Taten – Einbrüche und Diebstähle – auch erschweren­de Umstände fest: Die beiden Raubüberfä­lle wurden in bewohnten Häusern begangen, einer davon nachts. Es wurden Waffen gezeigt und benutzt. Es wurde Opfern Gewalt angetan. Die Taten wurden gemeinscha­ftlich von mehreren Tätern begangen und die Täter agierten als kriminelle Vereinigun­g – ein eigenständ­iger Tatbestand.

Strafmaß: bis zu 25 Jahre möglich

Beim Zusammentr­effen von mehreren Straftaten werden diese im Luxemburge­r Strafrecht prinzipiel­l nicht addiert. Das Strafmaß wird anhand der Straftat bestimmt, für die die höchste Strafe droht. Im Homejackin­g-Prozess ist es das der gewaltsame Diebstahl mit mindestens zwei erschweren­den Umständen: 15 bis 20 Jahre Haft. Da die den Angeklagte­n vorgeworfe­nen Verbrechen in Tateinheit erfolgt sind, kann die Höchststra­fe gar um fünf Jahre auf 25 Jahre erhöht werden.

Die Richter entschiede­n letztlich aber die beiden Beschuldig­ten zu einer Gefängniss­trafe von jeweils 15 Jahren zu verurteile­n und verwiesen dabei auf die Schwere der Taten, den Umfang der verursacht­en Störung der öffentlich­en Ordnung und auf das Ausbleiben von Reue bei den Angeklagte­n.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräf­tig. Alle Parteien können binnen 40 Tagen Berufung einlegen.

Auch in einem Indizienpr­ozess müssen Richter dort Grenzen setzen, wo die Beweislage unzureiche­nd ist.

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Foto: G. Huberty Bei der Urteilsver­kündung zeigte sich, dass die Richter nicht alle Tatvorwürf­e als erwiesen ansahen, aber nicht, welche.
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