Frankreichs Strategie des Flickenteppichs
Angesichts rasant steigender Corona-Zahlen setzt Präsident Emmanuel Macron auf regionale Lösungen
Das, was Emmanuel Macron im Video der beiden Influencer McFly und Carlito zu sagen hat, ist banal: „Händewaschen, sich nicht umarmen, Maske tragen“, verkündet der Präsident vom Himmel herab zur Musik der beliebten Youtuber. Der gut vierminütige Clip ist der jüngste Versuch des Staatschefs, in Frankreich einen weiteren Lockdown zu verhindern. Angesichts der Ansteckungszahlen, die vor allem im Süden und Norden des Landes explosionsartig ansteigen, wirkt der Film allerdings wie der Versuch, einen Mückenschwarm mit einem Schmetterlingsnetz zu vertreiben.
Dabei kennt Macron die Gefahren, die von den neuen Varianten des Corona-Virus ausgehen, genau. Mitarbeiter berichten, wie er sich nächtelang durch die jüngsten Studien liest und sogar Experten mit seinem Wissen beeindruckt. Die Fachleute hatte der Staatschef allerdings Ende Januar vor den Kopf gestoßen, als er gegen den Rat der Wissenschaftler entschied, keine dritte Ausgangssperre über das Land zu verhängen. Stur blieb er bei der seit Jahresanfang geltenden nächtlichen Ausgangssperre. In Metz, wo die südafrikanische Mutante mehr als die Hälfte aller Fälle ausmacht, lehnte die Regierung vor gut einer Woche die Forderung des Bürgermeisters nach einem lokalen Lockdown ab. In Dunkerque, wo die Zahl der Neuansteckungen innerhalb von sieben Tagen inzwischen bei 900 pro 100 000 Einwohnern liegt, blieben die Schulen offen, obwohl Lokalpolitiker ein Vorziehen der Frühjahrsferien gefordert hatten.
Inzwischen ist die Lage in der Stadt an der Grenze zu Belgien so dramatisch, dass Gesundheitsminister Olivier Véran gestern zu einer Stippvisite kam. Véran wirkt in diesen Tagen wie ein Feuerwehrmann, der von einem Brand zum nächsten eilt. Vergangene Woche war der Mediziner in Nizza, wo die Inzidenz bei 700 pro 100 000 Einwohnern liegt. Ab dem kommenden Wochenende gilt dort ebenso wie in mehr als 60 anderen Kommunen der Côte d’Azur eine Ausgangssperre. Dunkerque könnte nun eine ähnliche Maßnahme drohen. Insgesamt sei die Lage in einem Zehntel der 101 Départements
des Landes besorgniserregend, räumte Regierungssprecher Gabriel Attal ein.
„Angesichts der Situation sollte man lieber regionalisieren“, verkündete Macron vorgestern bei einem Besuch in der Nähe von Lyon. Im zentralistisch geprägten Frankreich wirkt der Ansatz, mit regionalen Beschränkungen einen Flickenteppich zu schaffen, allerdings befremdlich. Vor allem, weil der Staatschef vor einem Jahr Forderungen der Präsidenten der Regionen
eine Absage erteilt hatte, in der Krise mehr Kompetenzen zu bekommen, um beispielsweise selbst Masken zu bestellen. Doch Macron will einen neuen Lockdown um (fast) jeden Preis verhindern. „Er bekommt Wutanfälle und sagt uns: Ihr nervt mich, ich werde keine Ausgangssperre verkünden“, berichtet ein Vertrauter dem Nachrichtenmagazin „Le Point“.
Die Wahlen im Blick
Im Blick hat der Präsident dabei vor allem die Wahlen im nächsten Jahr, denn das Votum dürfte auch zu einer Abstimmung über seine Corona-Strategie werden. Und die sieht bisher eher dürftig aus: Mit mehr als 85 000 Toten gehört Frankreich zu den am meisten betroffenen Ländern. Zu Beginn der Pandemie fehlte es an Masken und Tests und auch der Start der Impfkampagne verlief holprig.
Der Corona-Kurs des Staatschefs ist von seinen Landsleuten nur schwer zu verstehen. Im vergangenen Frühjahr erklärte Macron den Französinnen und Franzosen mit ernster Miene: „Wir sind im Krieg“, um wenige Monate später zu verkünden, dass das Land lernen müsse, mit dem Virus zu leben. In einer Umfrage im Januar waren nur 19 Prozent der Meinung, dass der Präsident wisse, wohin er wolle. Im diese Woche veröffentlichten „Vertrauensbarometer“des Politikforschungsinstituts Cevipof äußerten zudem 58 Prozent der Französinnen und Franzosen die Ansicht, dass die Regierung die Krise nicht gut gemanagt habe. Die Unzufriedenheit ist damit in Frankreich deutlich größer als in Italien, Großbritannien oder Deutschland.