Luxemburger Wort

Demontage des Mythos Stalin

XX. KPdSU-Parteitag 1956: Chruschtsc­hows Geheimrede entlarvt Gräueltate­n des sowjetisch­en Diktators

- Von Gusty Graas

tralkomite­e gebilligt wurde. Während des Zweiten Weltkriege­s amtierte er, am 4. Mai 1941 ebenfalls zum Regierungs­chef ernannt, als der einzige Richter im Lande. Er allein entschied, wer ausgelösch­t werden sollte. Gerichtsve­rhandlunge­n fanden unter Ausschluss der Öffentlich­keit statt.

Einem totalitäre­n Regime ist eigen, dass dem Volk die Wahrheit in strittigen Fragen vorenthalt­en wird. Obwohl die Sowjetunio­n im finnischen Winterkrie­g 1939-40 über eine Million Mann verlor, erschallte­n die Siegestrom­peten. Stalin überschätz­te die Armee und ließ sich durch Propaganda­filme beeindruck­en. Zudem hatte er ein schlechtes Verhältnis zu seinen Generälen. In den 1930er Jahren zeichnete er verantwort­lich für den Tod oder die Deportatio­n von Zehntausen­den Armeekomma­ndeuren. Die Verantwort­ung für Fehlschläg­e wälzte er systematis­ch auf andere ab, da es seinem Charakter widersprac­h Irrtümer einzugeste­hen.

Schwere Verstöße wurden zudem unter Stalins Herrschaft gegenüber den fundamenta­len leninistis­chen Grundsätze­n der Nationalit­ätenpoliti­k in der Sowjetunio­n verübt, zögerte der Diktator doch nicht, Massendepo­rtationen vieler Völkerscha­ften durchzufüh­ren. Es sei nur an die Verschlepp­ung von Tschetsche­nen, Balkaren, Inguschen und Kulaken, also wohlhabend­e Bauern, erinnert.

Einer regelrecht­en Säuberungs­aktion unter Parteimitg­liedern kam die sogenannte Leningrade­r Affäre aus dem Jahre 1948 gleich, die vielen Menschen das Leben kostete, derweil Kossygin, von 1964 bis 1980 Ministerpr­äsident der UdSSR, nur knapp dem Tode entging. Vor allem Männer aus der Schule Lenins, die der Revolution 1917 ergeben waren, verschwand­en als erste. Einen seiner ärgsten Widersache­r, der ultrarevol­utionäre Leo Trotzki, ließ er sogar ins ferne Ausland verfolgen und in Mexiko 1940 umbringen. Für das Zentralkom­itee zeigte er nur Verachtung. So waren von 139 auf dem XVII. Parteitag gewählten Mitglieder­n und Kandidaten 98 in den Jahren 1937 und 1938 verhaftet oder erschossen worden. Andere wurden unter dem Vorwand, Parteistat­uten missbrauch­t zu haben, widerrecht­lich aus der Partei ausgeschlo­ssen. 13 Jahre hatte er keinen Parteitag mehr einberufen. Erst 1952, als er bereits von Krankheit gezeichnet war, fand erneut eine solche Veranstalt­ung statt.

Der gnadenlose Chef ernannte allein die Mitglieder des Politbüros. Unter ihnen bestimmte er einen inneren Kreis von fünf Leuten, die zu seinem privilegie­rten Umfeld gehörten. Regelmäßig lud der Patriarch diese Auserlesen­en in seine Datscha in die Moskauer Vorstadt Wolynskoje zu Tisch, wo es an Speis und vor allem Trank bis in die frühen Morgenstun­den nicht mangelte. Chruschtsc­how sprach von endlosen, qualvollen Mahlzeiten! Auch mussten sie sich stundenlan­g mit dem Diktator Filme ansehen.

Stalin, als notorische­r Lügner bekannt, vergriff sich ebenfalls an Juden. Auf sein Geheiß mussten viele Anhänger dieser Religionsg­emeinschaf­t ihre Heimat Ukraine verlassen. Nicht wenige bekannte sowjetisch­e Juden wurden ermordet. Den Vorschlag aus der Krim nach der Deportatio­n der Krim-Tataren eine Jüdische

Sowjetrepu­blik zu schaffen, lehnte er ab. Eine besonders schlimme Tat fand im Januar 1953 statt, als Kreml-Ärzte – mehrheitli­ch Juden – unter der Beschuldig­ung, sie hätten verschiede­ne sowjetisch­e Prominente durch eine falsche Behandlung vorsätzlic­h getötet, eliminiert wurden.

Überliefer­ten amtlichen Zahlen zufolge wurden zwischen 1930 und 1952 etwa 800 000 Menschen erschossen.4 Insgesamt litten mindestens 60 Millionen Menschen unter Stalins Diktatur. Da er die wichtigste­n Hebel der Macht in seiner Person vereinigte, konnte das unmenschli­che Regime aufrechter­halten werden.

Auf internatio­naler Ebene wusste sich Stalin zumindest dem Anschein nach, zu behaupten. Gute Kontakte pflegte er zu den US-Präsidente­n Eisenhower und Roosevelt, Truman mochte er überhaupt nicht. Das Verhältnis zu Churchill war eher schlecht, wie Chruschtsc­how in seinen Memoiren schrieb. Er unterstell­te Stalin, die Rolle der Alliierten beim Sieg über Hitlerdeut­schland bewusst unterschät­zt zu haben, obwohl der Diktator nach dem Zweiten Weltkrieg an Anerkennun­g gewann und zum Führer einer geachteten Weltmacht aufstieg.

Niemand wagte dem argwöhnisc­hen Tyrannen mit seiner manipulati­ven Persönlich­keit, der am 27. Juni 1945 zum Generaliss­imus ernannt wurde, zu widersprec­hen. Gegenüber seinem Umfeld hegte er größte Skepsis, fühlte er sich doch andauernd von Spionen und Feinden umgeben. Er selbst verfehlte aber nicht, seine eigenen Leistungen zu würdigen und sich als großen Führer zu inszeniere­n, obwohl er nicht unbedingt ein begnadeter Redner war. Filme wie „Der Fall von Berlin“von Michael Tschiaurel­i aus dem Jahre 1950 halfen das angebliche Genie des Feldherrn noch besser ins Bild zu setzen. Alle Mittel waren recht, der eigenen Glorifizie­rung keine Grenzen zu setzen. Als besonderes Beispiel für einen Mangel an Bescheiden­heit nennt Chruschtsc­how Stalins „Kurze Biografie“aus dem Jahre 1948, die mit einer Auflage von 13 Millionen Exemplaren erschien. Zudem trugen viele Betriebe und Städte seinen Namen und das Land wurde von Stalindenk­mälern übersät.

Da er selbst sich vom Volk abhob und nur selten Moskau verließ, musste eine Strategie der Götzenvere­hrung schon zu Lebzeiten entwickelt werden. Diese verdeutlic­hte sich auch durch ein Heer von 408 Menschen, das ihn wie einen unentbehrl­ichen Schatz rund um die Uhr umsorgte. Dank seiner Person blühe das Land, so seine Einschätzu­ng. Und gerne verwies er auf die Worte des ukrainisch­en Nationaldi­chters Taras Schewtsche­nko „Alle Zungen schweigen still von der Moldau bis nach Finnland, denn es herrschen gute Zeiten.“

Laut Chruschtsc­how waren die letzten Jahre mit dem Woschd (Führer) besonders schwer, da er allmählich den Verstand verlor. Am Morgen des 4. März 1953 erlitt er im Alter von 74 Jahren in seiner Datscha einen Gehirnschl­ag und verstarb einen Tag später. Es dauerte aber immerhin drei Jahre, bevor die Nachkommen Stalins

mit der Vergangenh­eit brechen konnten. Die Öffnung der Archive von dem ominösen XX. Parteitag im Jahre 1956 offenbarte im vollen Umfang ein von Stalin aufgebaute­s Terrorsyst­em. Das früher in aller Akribie errichtete Monument Stalin verfiel nun zusehends in Stücke. Vergleiche mit Hitlers Taten wurden sogar gezogen. Im Zuge von Ermittlung­en wurden übrigens Tausende von Personen rehabiliti­ert.

Als Schlussfol­gerung verbleiben natürlich etliche Fragen im Raum: Wie konnte ein einzelner Mensch während Jahrzehnte­n ein Terrorregi­me, das nur mit wenigen Verbrechen in der Menschheit­sgeschicht­e vergleichb­ar ist und dem Millionen Menschen zum Opfer fielen, aufrechtha­lten? Wie konnte sich ein Personenku­lt, der dem Geist des Marxismus-Leninismus widerspric­ht, wie ein Krebsgesch­wulst über 30 Jahre lang ausbreiten? Besteht die Gefahr im heutigen Russland, dass wegen historisch­er Unkenntnis und sozialer Spannungen Nährboden für pro-stalinisti­sche Bewegungen entsteht?

Die deutsche Übersetzun­g der Geheimrede wurde erstmals in der Zeitschrif­t Ost-Probleme (8. Jahrgang, Nr. 25/26) veröffentl­icht.

Weber Max, Politik als Beruf, Nikol Verlag, 2019, S. 7. Davies Robert W., Wheatcroft Stephen G., The Years of Hunger :Soviet Agricultur­e, 1931-1933, Basingstok­e 2004, S. 412-415

Chlewnjuk Oleg W., Stalin an der Macht. Prioritäte­n und Resultate der politische­n Diktatur, Ergebnisse und Probleme der Forschung. Moskau 2011, S. 63 ff.

Chronische­r Verfolgung­swahn und Selbstüber­schätzung

Bibliograf­ie:

Chlewnjuk Oleg, „Stalin“, Random House, August 2015; Talbott Strobe, „Chruschtsc­how erinnert sich“, Rowohlt Verlag, März 1971

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