Neutral und doch bedroht
Luxemburg war von den Kampfhandlungen des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 zwar nicht betroffen, doch nur wenige Jahre nach der Krise von 1867 stand seine Existenz erneut auf dem Spiel. Die „ewige Neutralität“drohte sich als leeres Versprechen des Lon
Doch auch danach blieb das Wahlrecht auf Jahrzehnte streng zensitär und schloss den Großteil der Bevölkerung aus.
Der Geist des „Mir wëlle bleiwe wat mir sinn“(wie es in der Schlusszeile des patriotischen Liedes „De Feierwon“heißt, das Michel Lentz 1859 schrieb) war vor allem eine Haltung der Mittelschichten, die nicht die Möglichkeit hatten, sich politisch in dem einen oder anderen Sinne auszudrücken. Eine Stimme fanden sie in verschiedenen Presseorganen, so der katholischen Oppositionszeitung „Luxemburger Wort“. Doch erst 1870 sollte dieses diffuse Gefühl die politische Entwicklung mitbestimmen helfen. In der Zwischenzeit hatte auch ein politischer Wechsel stattgefunden. Neuer Staatsminister und Präsident der Regierung war seit Dezember 1867 Emmanuel Servais, der in diesem Amt mehr politisches Geschick als sein Vorgänger bewies – und dies auch außenpolitisch tun musste.
Denn bald sollte die Londoner Neutralitätsgarantie auf die Probe gestellt werden – in einem Krieg, der Luxemburg eigentlich gar nicht betraf. Schon bei der Kriegserklärung Frankreichs an Preußen am 15. Juli 1870 rechnete die luxemburgische Bevölkerung damit, dass stündlich französische Truppen in der Hauptstadt einmarschieren könnten. Bereits am folgenden Tag waren Paris und Berlin aber bemüht, die Anerkennung der Neutralität des Großherzogtums zu unterstreichen. Die deutschen Truppen rückten über Lothringen nach Frankreich ein und zwangen den Gegner schnell in die Defensive. Die großen militärischen Auseinandersetzungen der folgenden Monate fanden in unmittelbarer Nähe zu Luxemburg statt, wo die Festungen Metz, Thionville, Longwy und Montmédy dem starken Gegner trotzten.
Das Leid nahe ihrer Grenzen ließ die Luxemburger nicht gleichgültig. Spontan bildeten sich „Comités de secours“, die medizinische Hilfskonvois in die umkämpften Gegenden organisierten. An ihnen nahmen Ärzte, Priester, aber auch „einfache“Menschen teil, die nur Tatkraft und Mitgefühl aufzubieten hatten. Im ganzen Land wurden Geld, Lebensmittel, Verbandsmaterial
und ähnliches gesammelt. Angetrieben war diese Hilfe vom Geiste eines Henri Dunant und einer Florence Nightingale, die sich zu dieser Zeit gegen die Unmenschlichkeit der Kriegsführung einsetzten. 1863 hatte Dunant in Genf das Internationale Rote Kreuz ins Leben gerufen, um die Versorgung und Betreuung verwundeter Soldaten sicherzustellen – und dies neutral, auf beiden kämpfenden Seiten. Damals war das ein völlig neues Konzept.
Wohl ging es den „Comité de secours“aus Luxemburg um humanitäre Hilfe für Soldaten und Zivilisten beider Seiten, doch betroffen war infolge der Entwicklung des Kriegsgeschehens nun einmal vor allem französisches Staatsgebiet. Darüber hinaus wurde aber deutlich, dass das Herz der Luxemburger in dieser Sache für Frankreich schlug. In Berlin kamen Zweifel auf, ob man sich in Luxemburg noch der eigenen Neutralität verpflichtet fühlte.
Zum Eklat kam es dann im September 1870: In der Nacht vom 24. auf den 25. September 1870 fuhr ein 60 bis 80 Wagen umfassender Zugkonvoi mit Lebensmitteln und Hilfsgütern von Luxemburg aus durch den preußischen Belagerungsring hindurch in das befestigte Thionville. Die Aktion war ohne Wissen der Regierung von Angestellten der Eisenbahngesellschaft „Guillaume Luxembourg“organisiert worden. Dass die luxemburgische Gesellschaft von der französischen „Compagnie de l’Est“in Pacht betrieben wurde, mag dafür eine Erklärung sein, schürte aber noch mehr die Aufregung der Deutschen. Klammheimlich hatten die Eisenbahner für die Aktion Gleise neu verlegt (und danach schnell wieder abgebaut), die von den preußischen Truppen entfernt worden waren, um diesen Kommunikationsweg abzuschneiden.
Hinzu kam die Tatsache, dass nach der Kapitulation der mit starken Verlusten verteidigten Festung Metz am 27. Oktober 1870 Tausende französischer Soldaten den Weg nach Norden suchten, um mit Hilfe der Bevölkerung über Belgien zur „Armée du Nord“zu gelangen, die bei Lille stationiert war. Bismarck war außer sich: Nach einer ersten Protestnote Anfang Oktober ließ er am 3. Dezember 1870 die Luxemburger
Regierung in geharnischtem Ton wissen, die preußische Regierung sähe sich angesichts der Ereignisse und der öffentlichen antipreußischen Gefühlsäußerungen in Luxemburg fortan nicht mehr an die Neutralitätsgarantie gebunden. Die nationale Stimmung in Deutschland, die durch den Sieg bei Sedan Auftrieb erhalten hatte, drohte mit dem aufmüpfigen Luxemburg kurzen Prozess zu machen.
Staatsminister Servais verfasste eine Antwort an Berlin, welche die erhobenen Vorwürfe Punkt für Punkt zu widerlegen versuchte. Recht deutlich war darin der Hinweis, dass das Statut Luxemburgs laut Londoner Vertrag nur gemeinsam von den Garantiemächten geklärt werden dürfte, weswegen er die Kanzleien in London, Wien, Sankt Petersburg in Kopie seines Schreibens setzte. Bismarck gab sich mit der Antwort nicht zufrieden und beschloss Anfang Januar 1871, einen Bevollmächtigten ins Großherzogtum zu schicken. Dieser überreichte der Regierung einen Forderungskatalog, der neben einer Entschädigung von siebeneinhalb Millionen Franken die Kontrolle der WilhelmLuxemburg-Bahn und der Post- und Telegraphenverwaltung durch Preußen einforderte.
An einer politischen Annexion schien Bismarck dagegen nicht sonderlich interessiert. Sie hätte Preußen (und dem Reich, das kurz danach ausgerufen wurde) wenig gebracht, lediglich Scherereien mit einer Bevölkerung, die einer derartigen Annexion sehr ablehnend gegenüberstand. Aus jener Zeit stammt die geänderte Schlusszeile des „Feierwon“: „Mir wëlle jo keng Preise ginn“. Damit war tatsächlich zunächst Preußen gemeint, erst später entwickelte sich daraus ein Schimpfwort – oder eine zumindest sehr umgangssprachliche Bezeichnung – für die Deutschen allgemein.
Krieg in Kanonenschussnähe
Drohungen aus Berlin
„Mir wëlle jo keng Preise ginn“
Bereits am 21. Oktober 1870 war es zu einem patriotischen Aufmarsch der Gesellschaften in der Hauptstadt gekommen, dem sich in den folgenden Tagen das Umland anschloss. Als die Situation sich im Dezember zuspitzte, brachte ein von 26 Vereinen gegründetes „Comité patriotique permanent“eine Petition in Umlauf, die in wenigen Tagen 43 773 Unterschriften erhielt.