Luxemburger Wort

Neutral und doch bedroht

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Dies war weit mehr als die Wahlbevölk­erung und entsprach fast der Gesamtheit der erwachsene­n Männer – bei einer Gesamtbevö­lkerung, die damals 204 000 Menschen umfasste. „Sire, notre pauvre patrie est en ce moment plus menacée qu’à aucune autre époque de son histoire. C’est au milieu de cette crise suprême que nous venons supplier Votre Majesté de sauver le Luxembourg, et de ne jamais permettre qu’on dispose de son existence politique sans le libre vote de ses population­s“, hieß es an die Adresse von König-Großherzog Wilhelm III.

Die geforderte Zahlung einer Abfindung, die einem Schuldgest­ändnis gleichgeko­mmen wäre, konnte Luxemburg abwenden, ebenso die von Bismarck geforderte Handhabe auf die großherzog­liche Postverwal­tung. Doch Berlin pochte weiter darauf, das luxemburgi­sche Eisenbahnn­etz unter seine Kontrolle zu bekommen. Im Frankfurte­r Friedensve­rtrag vom 10. Mai 1871, der zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich geschlosse­n wurde, kamen beide Seiten überein, dass die Compagnie de l’Est den Betrieb des Wilhelm-Luxemburg-Netzes an das Reich zu übergeben hatte. Luxemburg war an diesem Abkommen, das eine Einschränk­ung seiner Souveränit­ät bedeutete, nicht beteiligt. Doch sein Protest brachte nichts, zumal Deutschlan­d die luxemburgi­sche Mitgliedsc­haft im Zollverein als Druckmitte­l benutzte. Am 11. Juni 1872 musste die Regierung schweren Herzens das entspreche­nde Eisenbahna­bkommen unterzeich­nen. Im Gegenzug bestätigte Deutschlan­d, das luxemburgi­sche Bahnnetz nicht für militärisc­he Transporte zu nutzen, die eine Verletzung der Neutralitä­t des Landes bedeuten könnten.

Für das Deutsche Reich hatte das luxemburgi­sche Eisenbahnn­etz vor allem einen wirtschaft­lichen Nutzen. Wichtigste Folge des Frankfurte­r Friedensve­rtrags war nämlich die Abtretung der „Alsace“und weiter Teile der „Lorraine“durch Frankreich. Als Elsass-Lothringen wurde das Gebiet zum deutschen „Reichsland“– ein Trauma, das die Beziehunge­n zwischen beiden Staaten bis zum Ersten Weltkrieg vergiftete. Luxemburg grenzte fortan auch im Süden an deutsches Reichsgebi­et. Rein wirtschaft­lich gesehen, war die Entwicklun­g für das Großherzog­tum vorteilhaf­t. Das Aufblühen seiner Eisen- und Stahlindus­trie profitiert­e davon, dass das Land nun Teil eines deutschen Wirtschaft­sraumes war, der vom Ruhrgebiet bis zum lothringis­chen Erzbecken reichte. Wie als Symbol dieser Abhängigke­it trug nun auch das luxemburgi­sche Bahnperson­al die Uniform der „Kaiserlich­en Generaldir­ektion der Eisenbahne­n in Elsass-Lothringen“.

Die Zweckehe mit Preußen bzw. Deutschlan­d ging also in die nächste Runde. Luxemburgs Affinitäte­n zu Frankreich vermochte sie allerdings nicht zu mindern. Vor allem aber zeigte sich in diesen Schicksals­jahren erstmals, wenn auch bloß in Ansätzen, dass die Bewohner des Großherzog­tums an ihre eigene Unabhängig­keit glaubten und dafür einzutrete­n bereit waren.

Referenzwe­rke zur Geschichte Luxemburgs im 19. Jahrhunder­t sind die Veröffentl­ichungen von Albert und Christian Calmes, hier insbesonde­re: Christian Calmes: 1867. L’affaire du Luxembourg, Luxemburg (Imprimerie Saint-Paul) 1967, und derselbe: Le Luxembourg dans la Guerre de 1870, Luxemburg (Imprimerie Saint-Paul) 1970.

Eine gute Darstellun­g und Analyse findet man auch bei Gilbert Trausch: Le Luxembourg. Emergence d’un Etat et d’une nation, Brüssel/Luxemburg (Fonds Mercator/Editions Schortgen) 2007 (2. Aufl.).

Trausch, op. cit., S.311

Die 1869 mit belgischem Kapital gegründete Prinz-Heinrich-Eisenbahng­esellschaf­t war von diesem Abkommen nicht betroffen. Ihr unabhängig betriebene­s Netz wurde in den folgenden Jahrzehnte­n zu einer Ringbahn ausgebaut, deren Streckenab­schnitte allerdings im 20. Jahrhunder­t stillgeleg­t wurden.

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