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BnL – Wëssen entdecken: Wandlungen eines künstlerischen Mediums
Brave New World“von Aldous Huxley, „Wir“von Jewgenij Samjatin, „1984“von George Orwell, „Fahrenheit 451“von Ray Bradbury – es gibt eine Reihe von weit verbreiteten Büchern, die sich kritisch mit zukünftigen Gesellschaften befasst haben, in denen Menschen zu systemkonformen, ständig überwachten Wesen gezüchtet oder geformt werden. Mit der Ausstellung „Utopien und Apokalypsen“, die noch vor der Corona-Pandemie geplant wurde, trifft das Wiener Literaturmuseum genau die gegenwärtigen Zukunftsängste, die sich in Skepsis gegenüber technischen Fortschritten und Sorge um den Bestand demokratischer Systeme und individueller Freiheiten niederschlagen.
Das Literaturmuseum in der Wiener Innenstadt gehört zur Österreichischen Nationalbibliothek. Es befindet sich in jenem Gebäude, in dem einst Franz Grillparzer (1791-1872), einer der bedeutendsten Schriftsteller des Landes, als Archivdirektor tätig war, und zeigt neben einer Dauerausstellung über die österreichische Literatur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert immer wieder interessante Sonderschauen.
Schon die alten Archivschränke, in denen die Objekte präsentiert werden, ziehen die Besucher in ihren Bann, auch bei der aktuellen Schau, die literarischen Zukunftsvorstellungen gewidmet ist, erfreulichen und bedrohlichen, besseren und schlechteren Welten. Vom Schlaraffenland – hier dargestellt auf der originellen barocken Karte „Accurata Utopiae Tabula“von 1740 – oder paradiesischen Zuständen träumen dabei nur wenige Literaten. Viele zeichnen gefährliche gesellschaftliche und technische Entwicklungen auf, und für manche ist sogar der Weltuntergang nahe.
Leitgedanke der Ausstellung ist, dass Utopien und Apokalypsen zusammengehören, weil sie beide auf Neues abzielen, einerseits auf eine positiv veränderte Gesellschaft, anderseits auf den Weltuntergang, auf den eine neue Ordnung folgen kann. Ausgangspunkt sind zwei besondere Schaustücke: eine Ausgabe des Buches „Utopia“von Thomas Morus aus dem Jahr 1518 und eine Lutherbibel aus dem 16. Jahrhundert mit kunstvollen Illustrationen zum letzten Buch des Neuen Testaments, der Geheimen Offenbarung (Apokalypse), des Johannes.
Die meisten Objekte der Ausstellung sind naturgemäß Bücher und Manuskripte, doch schon am Eingang begrüßt die Besucher die von der Decke hängende Installation „Inseln der Seligen (GIER)“von Klaus Wanker, die aus Bitumen, Gräsern und UV-aktiver Farbe besteht. Es werden aber auch Ton- und Filmaufnahmen angeboten. In Videointerviews nehmen die Kulturund Literaturwissenschaftlerin Eva Horn, der Philosoph Thomas Macho, die Schriftstellerin Kathrin Röggla und der Autor Ilija Trojanow zur Thematik der Schau Stellung.
Desinfizieren der Hände ist erwünscht, wenn man die von der Corona-Pandemie überschattete Schau – immer wieder war sie wochenlang geschlossen – betritt. Dazu passend ist ein eigener Bereich Viren und Seuchen in der Literatur gewidmet, eingeleitet vom Klassiker „Das Dekameron“(Il Decamerone) von Giovanni Boccaccio aus dem 14. Jahrhundert. Auch „Die Pest“von Albert Camus, „Nemesis“von Philip Roth oder „The Stand“von Stephen King gehören in diese Kategorie. Visionen von Klimakatastrophen, atomarer Zerstörung, vom Ende
der Welt sind ebenso Gegenstand dieser Ausstellung wie Bezüge zu Film, Oper, Puppenspiel oder Popkultur.
Ein Bereich heißt „Maschinenträume“. Der vom Schweizer Ingenieur Peter Steurer 1952 in Österreich vorgeführte „Maschinenmensch Sabor“ist zu sehen. Die Schau lenkt den Blick auf den legendären Schwarz-Weiß-Film „Metropolis“von Fritz Lang, auf die Perry-Rhodan-Serie oder auf „Star Wars“, lässt aber erstaunlicherweise einen der Begründer der Science-Fiction-Literatur, den Franzosen Jules Verne, aus. Dafür bekommen der Brite H. G. Wells („Die Zeitmaschine“) und der Tscheche Karel Capek („Der Krieg mit den Molchen“), auf den das Wort Roboter zurückgeht, die verdiente Beachtung. Einer Dramatisierung des Capek Romans 2019 im Wiener Schubert Theater sind hier ausgestellte originelle Klappmaulund Handpuppen zu verdanken.
In eine Reihe mit den eingangs genannten Werken von Huxley, Samjatin, Orwell und Bradbury gehört der Roman „Kallocain“der schwedischen Schriftstellerin Karin Boye, die man auch als ältere Schwester Orwells bezeichnet hat. Hier bringt eine Substanz Menschen dazu, ihre intimsten Gedanken preiszugeben.
Die Ausstellung wurde von zwei Frauen kuratiert – Katharina Manojlovic und Kerstin Putz – und betont auch die weiblichen Leistungen in diesem Zweig der Literatur. Am Beginn steht bereits 1497 die Utopie „Le Trésor de la cité des dames“(Stadt der Frauen) von Christine de Pizan. Zu einem Klassiker wurde der Roman „Frankenstein“(1818) von Mary Wollstonecraft Shelley, in dem ein Wissenschaftler einen künstlichen Menschen erschafft. Die Amerikanerin Charlotte Perkins Gilman und die Britin Virginia Woolf forderten in ihren Werken mehr Räume für Frauen. Die 2018 verstorbene Ursula K. Le Guin trat mit feministischen Science-Fiction-Romanen hervor.
Einen Schwerpunkt bilden Texte von österreichischen Autorinnen und Autoren, darunter Erich Fried, Peter Handke, Ernst Jandl, Christine Lavant, Johann Nestroy, Peter Rosei, Marlene Streeruwitz und Oswald Wiener. International einen Namen gemacht haben sich auch Christoph Ransmayr („Die letzte Welt“, „Strahlender Untergang“), Marlen Haushofer, Verfasserin des mysteriösen, erfolgreich verfilmten Romans „Die Wand“, oder Ingeborg Bachmann, die mit dem – zum Unesco-Weltkulturerbe zählenden – Typoskript zu ihrem 1960 an der Goethe-Universität Frankfurt gehaltenen Vortrag „Literatur als Utopie“, in dem sie auf das utopische Denken von Robert Musil („Der Mann ohne Eigenschaften“) Bezug nahm.
Die Ausstellung schließt mit einem Zukunftslabor für Visionen der Besucher. „Du schreibst ein Buch über die Zukunft: Wie lautet der Titel?“steht über einer großen Tafel, an die mutmaßlich vor allem junge Menschen Blätter geheftet haben. Es gibt Titelvorschläge in mehreren Sprachen, lange und kurze. Nur drei Beispiele: „Wie Kunst die Welt rettete“, „Neustart oder Versuchen wir es noch einmal“, „Die einzige Rettung: Eine Zeitreise zurück ins Herz“.
Viren und Seuchen in der Literatur
„Utopien und Apokalypsen. Die Erfindung der Zukunft in der Literatur“im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek, noch bis zum 25. April 2021.