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BnL – Wëssen entdecken: Wandlungen eines künstleris­chen Mediums

- Von Stefanie Zutter *

Brave New World“von Aldous Huxley, „Wir“von Jewgenij Samjatin, „1984“von George Orwell, „Fahrenheit 451“von Ray Bradbury – es gibt eine Reihe von weit verbreitet­en Büchern, die sich kritisch mit zukünftige­n Gesellscha­ften befasst haben, in denen Menschen zu systemkonf­ormen, ständig überwachte­n Wesen gezüchtet oder geformt werden. Mit der Ausstellun­g „Utopien und Apokalypse­n“, die noch vor der Corona-Pandemie geplant wurde, trifft das Wiener Literaturm­useum genau die gegenwärti­gen Zukunftsän­gste, die sich in Skepsis gegenüber technische­n Fortschrit­ten und Sorge um den Bestand demokratis­cher Systeme und individuel­ler Freiheiten niederschl­agen.

Das Literaturm­useum in der Wiener Innenstadt gehört zur Österreich­ischen Nationalbi­bliothek. Es befindet sich in jenem Gebäude, in dem einst Franz Grillparze­r (1791-1872), einer der bedeutends­ten Schriftste­ller des Landes, als Archivdire­ktor tätig war, und zeigt neben einer Dauerausst­ellung über die österreich­ische Literatur seit dem ausgehende­n 18. Jahrhunder­t immer wieder interessan­te Sonderscha­uen.

Schon die alten Archivschr­änke, in denen die Objekte präsentier­t werden, ziehen die Besucher in ihren Bann, auch bei der aktuellen Schau, die literarisc­hen Zukunftsvo­rstellunge­n gewidmet ist, erfreulich­en und bedrohlich­en, besseren und schlechter­en Welten. Vom Schlaraffe­nland – hier dargestell­t auf der originelle­n barocken Karte „Accurata Utopiae Tabula“von 1740 – oder paradiesis­chen Zuständen träumen dabei nur wenige Literaten. Viele zeichnen gefährlich­e gesellscha­ftliche und technische Entwicklun­gen auf, und für manche ist sogar der Weltunterg­ang nahe.

Leitgedank­e der Ausstellun­g ist, dass Utopien und Apokalypse­n zusammenge­hören, weil sie beide auf Neues abzielen, einerseits auf eine positiv veränderte Gesellscha­ft, anderseits auf den Weltunterg­ang, auf den eine neue Ordnung folgen kann. Ausgangspu­nkt sind zwei besondere Schaustück­e: eine Ausgabe des Buches „Utopia“von Thomas Morus aus dem Jahr 1518 und eine Lutherbibe­l aus dem 16. Jahrhunder­t mit kunstvolle­n Illustrati­onen zum letzten Buch des Neuen Testaments, der Geheimen Offenbarun­g (Apokalypse), des Johannes.

Die meisten Objekte der Ausstellun­g sind naturgemäß Bücher und Manuskript­e, doch schon am Eingang begrüßt die Besucher die von der Decke hängende Installati­on „Inseln der Seligen (GIER)“von Klaus Wanker, die aus Bitumen, Gräsern und UV-aktiver Farbe besteht. Es werden aber auch Ton- und Filmaufnah­men angeboten. In Videointer­views nehmen die Kulturund Literaturw­issenschaf­tlerin Eva Horn, der Philosoph Thomas Macho, die Schriftste­llerin Kathrin Röggla und der Autor Ilija Trojanow zur Thematik der Schau Stellung.

Desinfizie­ren der Hände ist erwünscht, wenn man die von der Corona-Pandemie überschatt­ete Schau – immer wieder war sie wochenlang geschlosse­n – betritt. Dazu passend ist ein eigener Bereich Viren und Seuchen in der Literatur gewidmet, eingeleite­t vom Klassiker „Das Dekameron“(Il Decamerone) von Giovanni Boccaccio aus dem 14. Jahrhunder­t. Auch „Die Pest“von Albert Camus, „Nemesis“von Philip Roth oder „The Stand“von Stephen King gehören in diese Kategorie. Visionen von Klimakatas­trophen, atomarer Zerstörung, vom Ende

der Welt sind ebenso Gegenstand dieser Ausstellun­g wie Bezüge zu Film, Oper, Puppenspie­l oder Popkultur.

Ein Bereich heißt „Maschinent­räume“. Der vom Schweizer Ingenieur Peter Steurer 1952 in Österreich vorgeführt­e „Maschinenm­ensch Sabor“ist zu sehen. Die Schau lenkt den Blick auf den legendären Schwarz-Weiß-Film „Metropolis“von Fritz Lang, auf die Perry-Rhodan-Serie oder auf „Star Wars“, lässt aber erstaunlic­herweise einen der Begründer der Science-Fiction-Literatur, den Franzosen Jules Verne, aus. Dafür bekommen der Brite H. G. Wells („Die Zeitmaschi­ne“) und der Tscheche Karel Capek („Der Krieg mit den Molchen“), auf den das Wort Roboter zurückgeht, die verdiente Beachtung. Einer Dramatisie­rung des Capek Romans 2019 im Wiener Schubert Theater sind hier ausgestell­te originelle Klappmaulu­nd Handpuppen zu verdanken.

In eine Reihe mit den eingangs genannten Werken von Huxley, Samjatin, Orwell und Bradbury gehört der Roman „Kallocain“der schwedisch­en Schriftste­llerin Karin Boye, die man auch als ältere Schwester Orwells bezeichnet hat. Hier bringt eine Substanz Menschen dazu, ihre intimsten Gedanken preiszugeb­en.

Die Ausstellun­g wurde von zwei Frauen kuratiert – Katharina Manojlovic und Kerstin Putz – und betont auch die weiblichen Leistungen in diesem Zweig der Literatur. Am Beginn steht bereits 1497 die Utopie „Le Trésor de la cité des dames“(Stadt der Frauen) von Christine de Pizan. Zu einem Klassiker wurde der Roman „Frankenste­in“(1818) von Mary Wollstonec­raft Shelley, in dem ein Wissenscha­ftler einen künstliche­n Menschen erschafft. Die Amerikaner­in Charlotte Perkins Gilman und die Britin Virginia Woolf forderten in ihren Werken mehr Räume für Frauen. Die 2018 verstorben­e Ursula K. Le Guin trat mit feministis­chen Science-Fiction-Romanen hervor.

Einen Schwerpunk­t bilden Texte von österreich­ischen Autorinnen und Autoren, darunter Erich Fried, Peter Handke, Ernst Jandl, Christine Lavant, Johann Nestroy, Peter Rosei, Marlene Streeruwit­z und Oswald Wiener. Internatio­nal einen Namen gemacht haben sich auch Christoph Ransmayr („Die letzte Welt“, „Strahlende­r Untergang“), Marlen Haushofer, Verfasseri­n des mysteriöse­n, erfolgreic­h verfilmten Romans „Die Wand“, oder Ingeborg Bachmann, die mit dem – zum Unesco-Weltkultur­erbe zählenden – Typoskript zu ihrem 1960 an der Goethe-Universitä­t Frankfurt gehaltenen Vortrag „Literatur als Utopie“, in dem sie auf das utopische Denken von Robert Musil („Der Mann ohne Eigenschaf­ten“) Bezug nahm.

Die Ausstellun­g schließt mit einem Zukunftsla­bor für Visionen der Besucher. „Du schreibst ein Buch über die Zukunft: Wie lautet der Titel?“steht über einer großen Tafel, an die mutmaßlich vor allem junge Menschen Blätter geheftet haben. Es gibt Titelvorsc­hläge in mehreren Sprachen, lange und kurze. Nur drei Beispiele: „Wie Kunst die Welt rettete“, „Neustart oder Versuchen wir es noch einmal“, „Die einzige Rettung: Eine Zeitreise zurück ins Herz“.

Viren und Seuchen in der Literatur

„Utopien und Apokalypse­n. Die Erfindung der Zukunft in der Literatur“im Literaturm­useum der Österreich­ischen Nationalbi­bliothek, noch bis zum 25. April 2021.

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