Hybrides Europa
Reisebericht über einen afrikanisch geprägten Kontinent
Paris, Brüssel, Amsterdam, Berlin, Stockholm, Moskau, Marseille und Lissabon – man könnte es für die Stationen eines gewöhnlichen Rucksacktouristen halten. Doch der Reisende passt nicht ganz ins Bild junger Weltenbummler, die auf der Suche nach Abenteuern von einer hippen Metropole in die nächste ziehen. Johny Pitts ist einer der seltenen schwarzen Backpacker, und man findet ihn in verrufenen Vororten und ausgedienten öffentlichen Gebäuden genauso wie in angesagten Kaffeebars und an touristischen Hotspots. Er erkundet schwarze Gemeinschaften, die den Kontinent, der so lange seine Kultur in den Rest in den Rest der Welt exportiert hat, zu ihrem Zuhause gemacht und „rückwärts kolonisiert“haben.
Der Anlass für diese Reise liegt zum einen in der Biografie des Reisejournalisten. Pitts ist im Arbeitermilieu des nordenglischen Sheffield mit einem schwarzen Vater, einem afroamerikanischen Soulsänger, und einer weißen Mutter aufgewachsen, repräsentiert also selbst jene Art von Mischkultur, der er in diesem Buch nachspürt. Im Prolog beschreibt er das Heranwachsen in den Neunzigern, als der Hip-Hop die migrantische Jugend vereinte und eine optimistische Grundstimmung einen davon träumen ließ, dass soziale Konflikte nach und nach hinwegschmelzen würden. Die Gegenwart, mit ihren Flüchtlingskrisen und neuen Nationalismen, hat Pitt und seine Generation eines Besseren gelernt.
Ein Besuch im „Dschungel“von Calais bringt den Autor von seiner ursprünglichen Idee ab, erfolgreiche Europäer afrikanischer Abstammung zu porträtieren. Stattdessen soll ein breiteres Spektrum an Lebenserfahrungen im Mittelpunkt stehen. Die zentrale Vokabel dafür entlehnt Pitt dem Geist der Neunziger: Das Wort „afropäisch“, ursprünglich von David Byrne für die Musik der belgisch-kongolesischen Band Zap Mama geprägt, soll eine Identität „komplett und ohne Bindestrich“bezeichnen. Um es gleich vorweg zu sagen, die Vielfalt der Menschen und ihrer Lebensumstände, denen Pitt auf seiner Reise begegnet, unterläuft sein Vorhaben, sie unter einem einheitlichen Begriff zu fassen. Dass die neue Schublade, die der Autor aufmacht, auch nur ein weitere Schublade ist, bedeutet aber noch nicht, dass das ganze Unternehmen misslungen ist.
Die Stärke von Afropäisch liegt gerade in den verschiedenartigen Geschichten, die es über den alten Kontinent zu erzählen weiß. Zwischen ihnen gibt es Parallelen, aber es sind nicht unbedingt die, die das Adjektiv „afropäisch“vermuten lassen würde. Dabei ist das Buch nie nur Reisebericht, sondern enthält zahlreiche essayistische Passagen sowie eine ganze Reihe historischer Exkurse zu schwarzer Präsenz in Europa. Zudem schreibt Johny Pitts nicht nur, er macht auch Fotos. Seine Bilder, von denen jedem Kapitel einige beigegeben sind, zeigen schwarze Menschen mit Mantel und Schal bei der Alltagsbewältigung: in der U-Bahn sitzend, auf den Bus wartend, die Straße überquerend. Um jeglichen Exotismus im Keim zu ersticken, reist Pitts bewusst im Winter.
Wer dem Autor auf seiner Reise folgt, dem fällt auf, dass sie mit ihre Bewegung nach Osten und wieder zurück einerseits eine klare Dramaturgie besitzt, Pitts’ Erlebnisse andererseits aber immer wieder von glücklichen Fügungen und Zufällen bestimmt sind. Den Startpunkt bildet Paris, ein Sehnsuchtsort gerade für Afroamerikaner.
Viel aufschlussreicher als eine Tour durch zu den ehemaligen Wirkungsstätten berühmter Exilanten wie Richard Wright oder James Baldwin sind allerdings die vier Tage, die der Journalist in der Banlieue, in Clichysous-Bois, verbringt.
Dass im einzigen Hotel dort ausgerechnet eine britische Familie absteigt, die sich auf dem Weg nach Disneyland verirrt hat, gehört zu den skurrilen Begebenheiten des Buchs – die Ausgrenzung, Isolation und Perspektivlosigkeit der afrikanisch-stämmigen Bevölkerung leider zu seinen Leitmotiven. Im liberalen Schweden verhält es sich da wenig anders, in Lissabon entdeckt Pitts gar eine Favela, wie man sie in der „Ersten Welt“nie vermutet hätte. Am erfolgreichsten scheint ihm ein afropäisches Miteinander in Marseille realisiert worden zu sein. Das scheinbar weltoffene Berlin hingegen lässt ihn amüsiert bis ernüchtert zurück.
Ausgegrenzt und isoliert
Tintin im Museum
Afropäisch beschreibt allerdings nicht nur schwarze Subkulturen, die sich mal besser und mal schlechter etabliert haben. Am spannendsten ist das Buch oft dort, wo es von der Unsichtbarmachung und Weißwaschung einer europäischen Geschichte berichtet, die stark afrikanisch geprägt ist. Das betrifft etwa die ehemalige Patrice-Lumumba-Universität in Moskau, an der die Sowjetunion einst zahlreiche afrikanische Politiker und Intellektuelle ausbildetet hat, eine Tradition, von der Pitt heute allerdings kaum noch Überreste findet. An der französischen Riviera sucht er derweil vergeblich nach Spuren der kolonialen Truppen, die zwei Drittel von De Gaulles Armee ausmachten, an der Befreiung Paris’ allerdings nicht teilnehmen durften. Und im Königlichen Museum für Zentral-Afrika in Brüssel trifft er auf eine historische Sichtweise, die scheinbar nahtlos an die eines Comics anschließt, den er soeben gelesen hat: Tintin au Congo.
So sehr die Ausflüge in die Geschichte den Text bereichern, so sehr bleiben sie Anekdoten in einem Buch, das vom Anekdotischen lebt. Johny Pitts kann beobachten, und er kann zuhören, ob er sich nun mit afropäischen Pionieren wie Caryl Phillips oder Linton Kwesi Johnson oder mit Zufallsbekanntschaften unterwegs unterhält. Selbst wo seine Gegenüber vorrangig Klischees oder Vorurteile präsentieren, hält sich Pitts erst mal zurück und zeichnet auf. Was natürlich nicht bedeutet, dass dieser Reisebericht nicht auch ein zutiefst persönlicher und subjektiver ist, bei dem der Autor nicht mit seinen Ansichten und Urteilen spart. Von den vielen Abschnitten werden einen vermutlich nicht alle gleichermaßen überzeugen, aber in Afropäisch dürfte jeder welche stoßen, die eine neue Sichtweise eröffnen oder zum Nachdenken anregen.
Johny Pitts: Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa. Suhrkamp Verlag, 461 S., 26 Euro