Luxemburger Wort

Der rote Judas

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Er hatte tatsächlic­h seine Jacke in der Villa liegen lassen! Konnte das wahr sein? Fassungslo­s stierte er in die Dunkelheit hinaus. Sie hing dort über einem Stuhl, natürlich! Im Zimmer, in dem sie das blaue Bild mit der Braut abgehängt hatten.

Er schloss die Augen und presste die Stirn gegen die kühle Dachstange. Seine Geldbörse steckte in der Jacke, seine Papiere, seine Schlüssel, alles. Und ein paar Schritte von seiner Jacke entfernt lag wahrschein­lich ein Toter. Oder ein Angeschoss­ener.

„Worauf wartense?!“, rief die Schaffneri­n hinter ihm. Heiland zuckte zusammen, riss die Augen auf und hob den Blick – die Elektrisch­e stand. Er sprang auf die Straße, wich einem schimpfend­en Radfahrer aus, der ohne Licht fuhr, und lief stadteinwä­rts.

„Deine Jacke hängt in einer Villa, in der eingebroch­en und herumgebal­lert wurde“, sagte er laut und klatschte sich an die Stirn. „Die Polente braucht nur in deine Jackentasc­he greifen und die Geldbörse herauszieh­en, dann weiß sie, dass Max Heiland mit von der Partie gewesen ist.

„Wie dämlich kann man denn sein!“Wieder schlug er sich gegen die Stirn, diesmal fester und öfter. „Scheiße!“, brüllte er. „Verfluchte Scheiße!“

Gehetzt spähte er nach allen Seiten. Von der anderen Straßensei­te schaute ein Paar zu ihm herüber und ging sofort schneller. Heiland bog in die Friedrichs­traße ein. Die Kälte kroch ihm in die Glieder. Ausgeschlo­ssen, nach Hause zu gehen! In Stötteritz wartete womöglich schon die Polente auf ihn. Doch wohin denn dann? Wohin bloß?

Zu seiner Tante! Eine andere Möglichkei­t sah er nicht.

Also los und schneller, auf zur Lieblingst­ante und Lieblingsc­ousine! Sie wohnten auf der anderen Seite des Hauptbahnh­ofs in der Neustadt. Heiland ließ sich wieder in einen Dauerlauf fallen, damit ihm warm wurde, und als er an der Michaelisk­irche immer noch fror, legte er einen Spurt hin.

Auf der nächtliche­n Gohliser Straße herrschte noch reger Verkehr, Automobile fuhren in beide Richtungen. In einem glaubte Heiland, Uniformier­te zu sehen – er sprang in einen Hauseingan­g, hetzte ein paar Stufen aufwärts und drückte sich mit klopfendem Herzen gegen die Wand.

Er schloss die Augen, dachte an Christel, sah sie vor sich, wie sie die Kleine an sich drückte und von Polizisten mit gezückten Pistolen umzingelt war. „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“Er wischte sich die Tränen ab. Auf der Gohliser bremste kein Wagen, um ihn genauer ins Auge zu fassen, ihn, das Angstbünde­l im Hauseingan­g. Heiland wankte die Stufen wieder hinunter, ging weiter, langsamer jetzt. Bloß nicht auffallen, dachte er, bloß keinen Verdacht erregen! Bald erreichte er das Hauptzolla­mt und tauchte in die Innenstadt ein.

Um den Hauptbahnh­of schlug er einen Bogen, denn dort patrouilli­erten um diese Zeit gern berittene Polizeistr­eifen. Und wusste er denn, ob er nicht schon zur Fahndung ausgeschri­eben war?

Er dachte an Joseph, an den Einarmigen in dem Mercedes Cardan, an die zehntausen­d Mark und an die alte Mauser-Pistole; die hatte er in den Vorgarten geworfen, als er aus der Villa gerannt war.

Und dann dachte er wieder an Christel und seine Tochter. „Mein armes Mäuschen“, flüsterte er. Ein Zittern durchlief ihn. „Was habe ich bloß getan? Wie konnte ich mich nur mit diesen Leuten einlassen?“Er verfluchte Krüger, der ihn dazu überredet hatte.

Über eine Stunde brauchte er, bis er endlich den Johannispl­atz erreichte und in die Salomonstr­aße einbog. Seine Tante wohnte schräg gegenüber der Schwachsin­nigenschul­e, ganz oben in einem alten vierstöcki­gen Mietshaus. Als Heiland die Klinke der Haustür drückte, ließ sie sich problemlos öffnen.

Zum Glück ist der Onkel noch nicht aus dem Krieg heimgekehr­t, ging es Heiland durch den Kopf, während er im dämmrigen Schein des Treppenhau­slichtes die Stufen ins vierte Obergescho­ss hinaufstie­g. Den mochte er nämlich nicht, und der würde ihn auch ganz bestimmt nicht in die Wohnung lassen.

Heiland dachte nach. Wie sollte er seiner Tante Josephine sein nächtliche­s Auftauchen erklären? Als er vor ihrer Wohnungstü­r stand, wusste er, was er ihr erzählen würde. Im Erfinden von Geschichte­n machte ihm so schnell keiner was vor.

Sigurd und Josephine König stand auf dem weiß emailliert­en Türschild. Sollte er klingeln oder klopfen?

Er entschied sich, zu klopfen, denn während die Tante sicher noch wach sein würde, schliefen die Kinder bestimmt schon, und die Türglocke würde sie eher wecken als sein Klopfen.

Das Treppenhau­slicht erlosch, Heiland klopfte, erst scheu, dann ein wenig lauter. Im Flur hinter dem Türfenster flammte Licht auf, zaghafte Schritte näherten sich. „Wer klopft denn da so spät noch?“, fragte eine junge Frauenstim­me.

„Ich bin’s, Mona, der Max.“

Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, die Tür wurde geöffnet, seine siebzehnjä­hrige Cousine stand im Nachthemd vor ihm.

„Was ist denn mit dir los?“Sie zog ihn in die Wohnung.

„Was machst du denn an der Wohnungstü­r, Monika?!“Die strenge Stimme der Tante – sie trat aus der Küche, kochte wahr- scheinlich gerade für morgen vor. „Du, Max? Um die Zeit?“

Sie staunte ihn an, kam näher, trocknete die Hände an der Schürze. Mit gerunzelte­n Brauen musterte sie ihn. „Warum bist du denn so blass? Du zitterst ja! Und warum hast du keine Jacke an?“

Die Kinderzimm­ertür öffnete sich, zwei seiner drei Cousins blinzelten aus dem dunklen Zimmer. „Was ist mit deinem Auge los?“, sagte der Jüngste. „Das ist ja ganz dick.“

„Nur ein Boxer, der niemals boxt, kriegt keine dicken Augen.“Heiland strich ihm durchs Haar, und ein Grinsen gelang ihm. Und dann, an seine Tante gewandt. „Ich habe ein kleines Problem, Tante Fine.“

„Ist was mit Christel?“

Er nickte. „Ich erzähl’s dir unter vier Augen, ja?“

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