Kalender der Natur
Menschen hoffen auf vorgezogenen Frühlingsbeginn – die Phänologie weiß die Zeichen der Zeit zu deuten
Luxemburg. Kann es sein, dass draußen schon Frühling herrscht? Eigentlich sollte der doch erst am 20. März beginnen, meinen zumindest die Astronomen. Ein Blick aus dem Fenster sagt aber etwas ganz anderes: Zwitschernde Vögel und blühende Krokusse bereiten uns schon jetzt die ersten Glücksgefühle.
Die genaue Beobachtung der Natur kommt zu einem ganz anderen Schluss als Meteorologie und Astronomie: Phänologie nennt sich die Forschungsrichtung, die weiß, wie die Zeichen der Zeit in der Natur erkannt und richtig gedeutet werden. Sie orientiert sich dabei am Blattaustrieb bestimmter „Kennpflanzen“, die als Indikator für das Fortschreiten der Jahreszeiten dienen, ebenso wie am Flug bestimmter Zugvögel und vielen weiteren Naturphänomenen.
Zehn Jahreszeiten im Wandel
Die Phänologie basiert somit auch auf den Erfahrungswerten vieler Generationen und leitet daraus Regelmäßigkeiten ab. Manches davon hat man früher in Form von Bauernregeln zu Merksprüchen verdichtet. Anderes fußt auf teilweise jahrhundertelangen detaillierten Aufzeichnungen. In Japan etwa wird die Zeit der Kirschblüte genauestens registriert – und zwar schon seit dem Jahr 705.
In Europa ist es die Apfelblüte, der eine besondere Rolle zukommt. Im Jahr 1736 beginnt Robert Marsham aus Stratton in England umfangreiche Aufzeichnungen, in denen er das Verhalten bestimmter Tierarten, aber auch die Blüte und den Blattaustrieb einer Reihe von Pflanzen vermerkt. So erarbeitet er insgesamt „27 Indikatoren für den Frühling“. Diese Tradition setzt dann seine Familie über Generationen hinweg fort. In anderen Ländern, wie Frankreich etwa, finden sich detaillierte Aufzeichnungen über die Weinlese vergangener Tage. Auf diese Art ist ein unbezahlbarer Erfahrungsschatz entstanden, ein Kalender der Natur könnte man sagen.
Aber was hat denn nun die Phänologie über den Frühling zu sagen? Eine Bauernregel bringt das phänologische Wissen in Bezug auf den Frühlingsanfang auf den Punkt: „Es ist erst dann wirklich Frühling, wenn dein Fuß auf drei Gänseblümchen treten kann.“
Im Detail ist das Ganze dann aber doch noch ein bisschen komplizierter. Da die Phänologie ganz genau schaut, wie die Zeichen der Zeit in der Natur stehen, reichen ihr die herkömmlichen vier Jahreszeiten nicht aus, vielmehr unterscheidet sie derer gleich zehn. In Bezug auf den Frühling spricht man in der Phänologie von Vorfrühling, Erstfrühling und Vollfrühling. Ein Frühlingsbote des Vorfrühlings ist das Schneeglöckchen, aber auch das Stäuben des Rohrkolbens und der Haselnuss zeigt an, dass es jetzt Frühling wird. Das Austreiben der Stachelbeeren leitet schon den Erstfrühling ein, der gekennzeichnet ist durch blühende Buschwindröschen und Forsythien, austreibende Rosskastanien und Äpfel, später dann noch durch blühenden Löwenzahn und natürlich auch die Kirschblüte. Die Birnenblüte steht schon am Übergang zum Vollfrühling, der mit der Apfelblüte beginnt und mit der Blüte der Himbeeren in den Sommer übergeht, oder besser gesagt: Frühsommer.
Mit den Blättern der Bäume kehren auch die Zugvögel zurück, können sie sich doch erst jetzt richtig im Blattdickicht verstecken und brüten. Einige kommen sogar schon etwas früher. Zu den ersten Frühlingsboten gehören die Kraniche, Störche, aber auch die Singdrosseln und die Kuckucke. Bei den Schmetterlingen zählt der Zitronenfalter zu den ersten, die man im Frühjahr zu Gesicht bekommt.
Fixe Tage versus Naturphänomene Der Frühling startet in Europa meist gegen Ende Februar in Portugal und zieht dann langsam ins über 3 600 Kilometer entfernte Finnland, wo er nach etwa 90 Tagen eintrifft. Etwa 30 bis 40 Kilometer schafft der Frühling so am Tag auf seinem Weg durch Europa. Allerdings kann es von Jahr zu Jahr durchaus beachtliche Abweichungen von mehreren Wochen geben – und natürlich auch von Region zu Region.
Der große Vorteil der Phänologie liegt darin, dass sie sich an den ganz konkreten Gegebenheiten direkt vor Ort orientiert. Nur 50 Kilometer weiter kann alles schon ganz anders aussehen. Daher ist auch Vorsicht geboten, wenn es um Bauernregeln geht, denn die gelten zumeist nur für eine ganz konkrete Region und können nicht so einfach ins entfernte Umland exportiert werden. Zudem orientieren sie sich oft am Kirchenkalender. Dem aber liegt nicht die Phänologie zu Grunde. So heißt es etwa in Bezug auf den gefürchteten Frost im Frühjahr über die „Eisheiligen“: „Vor Nachtfrost bist du sicher nicht, bevor die kalte Sophie (am 15. Mai) vorüber ist.“Phänologisch ausgerichtet sind im Gegensatz dazu die folgenden Bauernregeln: „Siehst du gelbe Blümchen im Freien, kannst du deinen Samen streuen“oder auch „Wenn die Eiche Blätter kriegt, ist der Frost gewiss besiegt“.