Gruppentherapie für Eigenwillige
Bei einem EU-Gipfel versuchen die Staats- und Regierungschefs sich im Kampf gegen die Pandemie besser zu koordinieren
Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen suchen – fast genau ein Jahr nach dem Beginn der ersten coronabedingten Einschränkungen – nach dem richtigen Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit. Ebenfalls fehlt ihnen offenbar auch noch die gute Balance zwischen nationalen Lösungen und europäischer Zusammenarbeit. „Ein Jahr Corona, und noch immer gibt es keine koordinierte, solidarische Strategie der EU im Kampf gegen die Pandemie“, stellt etwa Martin Schirdewan fest, Chef der linken Fraktion im EU-Parlament.
Bei einem Videogipfel gestern ging es in diesem Zusammenhang vor allem um zwei Herausforderungen. Erstens: Wie kann man durch Reiseeinschränkungen die weitere Ausbreitung der Seuche verhindern, ohne aber den EU-Binnenmarkt lahmzulegen und Menschen Grenzüberschreitungen pauschal zu verbieten. Zweitens finden die EU-Staats- und Regierungschefs noch immer nicht den idealen Ausgleich zwischen flächendeckender europäischer Koordinierung und gezielten regionalen Maßnahmen.
Das Resultat: Immer wieder sorgen unterschiedliche CoronaMaßnahmen auf beiden Seiten einer EU-Binnengrenze für Unmut zwischen Nachbarn. Manchmal sind die Folgen einseitige Grenzschließungen, die dann wiederum zu mehr Spannungen führen. Glücklich ist das Bild, das die
EU derzeit abgibt nicht. „Wir führen unseren Kampf gegen die Covid-19-Pandemie fort“, meint etwa der EU-Gipfelleiter Charles Michel in seinem Einladungsschreiben. „Dieser bleibt aufgrund des Aufkommens neuer Virusvarianten und der Notwendigkeit, das richtige Gleichgewicht zwischen Beschränkungen und dem reibungslosen Waren- und Dienstleistungsverkehr im Binnenmarkt zu finden, eine Herausforderung.“
Berlin und Brüssel am Pranger
Ein Streitthema sind dabei etwa die verschärften Grenzkontrollen von Deutschland oder Belgien. Eigentlich hatten sich die EU-Staaten vor einigen Wochen auf Empfehlungen
für ein einheitliches Vorgehen an den Grenzen geeinigt. Deutschland geht jedoch darüber hinaus und hat die Kontrollen an den Grenzen zu Tschechien oder Österreich verschärft. Belgien wird seinen Einwohnern das Reisen aus „nicht-wesentlichen“mit aller Voraussicht bis April komplett verbieten. Bei der EU-Kommission
stößt das auf deutliche Kritik, weil Pendler und wichtige Waren an den Grenzen dadurch aufgehalten werden können und der Binnenmarkt leiden könnte.
Rücksicht auf Grenzregionen
Vom gestrigen Meinungsaustausch erwarteten sich EU-Diplomaten kaum nennenswerte Ergebnisse. Aus der Sicht von Charles Michel ist der regelmäßige Austausch auch bereits ein Ziel an sich. Allerdings zeigt die gestrige Gipfelerklärung, dass es innerhalb der Europäischen Union immer mehr Verständnis für die Lage der Grenzregionen gibt, was für Luxemburg offensichtlich lebenswichtig ist. So hält die Erklärung fest, dass alle Maßnahmen, die in Richtung Reisebeschränkungen gehen, die „spezifische Situation grenzüberschreitender Gemeinschaften“berücksichtigen muss. Diese Botschaft war der luxemburgischen Regierung sehr wichtig.
Schon bei einem Vorbereitungstreffen hatte Außenminister Jean Asselborn (LSAP) dafür plädiert, dass der EU-Gipfel die Lebenswirklichkeiten von Grenzregionen zur Kenntnis nimmt. „Grenzüberschreitende Gemeinschaften machen rund 30 Prozent der Unionsbürger aus“, sagte Asselborn seinen EU-Amtskollegen“. „Diese Gemeinschaften sind derzeit im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen überproportional von nationalen Maßnahmen, die die Freizügigkeit an den Binnengrenzen behindern, betroffen.“