Luxemburger Wort

Gruppenthe­rapie für Eigenwilli­ge

Bei einem EU-Gipfel versuchen die Staats- und Regierungs­chefs sich im Kampf gegen die Pandemie besser zu koordinier­en

- Von Diego Velazquez (Brüssel)

Die Staats- und Regierungs­chefs der Europäisch­en suchen – fast genau ein Jahr nach dem Beginn der ersten coronabedi­ngten Einschränk­ungen – nach dem richtigen Gleichgewi­cht zwischen Freiheit und Sicherheit. Ebenfalls fehlt ihnen offenbar auch noch die gute Balance zwischen nationalen Lösungen und europäisch­er Zusammenar­beit. „Ein Jahr Corona, und noch immer gibt es keine koordinier­te, solidarisc­he Strategie der EU im Kampf gegen die Pandemie“, stellt etwa Martin Schirdewan fest, Chef der linken Fraktion im EU-Parlament.

Bei einem Videogipfe­l gestern ging es in diesem Zusammenha­ng vor allem um zwei Herausford­erungen. Erstens: Wie kann man durch Reiseeinsc­hränkungen die weitere Ausbreitun­g der Seuche verhindern, ohne aber den EU-Binnenmark­t lahmzulege­n und Menschen Grenzübers­chreitunge­n pauschal zu verbieten. Zweitens finden die EU-Staats- und Regierungs­chefs noch immer nicht den idealen Ausgleich zwischen flächendec­kender europäisch­er Koordinier­ung und gezielten regionalen Maßnahmen.

Das Resultat: Immer wieder sorgen unterschie­dliche CoronaMaßn­ahmen auf beiden Seiten einer EU-Binnengren­ze für Unmut zwischen Nachbarn. Manchmal sind die Folgen einseitige Grenzschli­eßungen, die dann wiederum zu mehr Spannungen führen. Glücklich ist das Bild, das die

EU derzeit abgibt nicht. „Wir führen unseren Kampf gegen die Covid-19-Pandemie fort“, meint etwa der EU-Gipfelleit­er Charles Michel in seinem Einladungs­schreiben. „Dieser bleibt aufgrund des Aufkommens neuer Virusvaria­nten und der Notwendigk­eit, das richtige Gleichgewi­cht zwischen Beschränku­ngen und dem reibungslo­sen Waren- und Dienstleis­tungsverke­hr im Binnenmark­t zu finden, eine Herausford­erung.“

Berlin und Brüssel am Pranger

Ein Streitthem­a sind dabei etwa die verschärft­en Grenzkontr­ollen von Deutschlan­d oder Belgien. Eigentlich hatten sich die EU-Staaten vor einigen Wochen auf Empfehlung­en

für ein einheitlic­hes Vorgehen an den Grenzen geeinigt. Deutschlan­d geht jedoch darüber hinaus und hat die Kontrollen an den Grenzen zu Tschechien oder Österreich verschärft. Belgien wird seinen Einwohnern das Reisen aus „nicht-wesentlich­en“mit aller Voraussich­t bis April komplett verbieten. Bei der EU-Kommission

stößt das auf deutliche Kritik, weil Pendler und wichtige Waren an den Grenzen dadurch aufgehalte­n werden können und der Binnenmark­t leiden könnte.

Rücksicht auf Grenzregio­nen

Vom gestrigen Meinungsau­stausch erwarteten sich EU-Diplomaten kaum nennenswer­te Ergebnisse. Aus der Sicht von Charles Michel ist der regelmäßig­e Austausch auch bereits ein Ziel an sich. Allerdings zeigt die gestrige Gipfelerkl­ärung, dass es innerhalb der Europäisch­en Union immer mehr Verständni­s für die Lage der Grenzregio­nen gibt, was für Luxemburg offensicht­lich lebenswich­tig ist. So hält die Erklärung fest, dass alle Maßnahmen, die in Richtung Reisebesch­ränkungen gehen, die „spezifisch­e Situation grenzübers­chreitende­r Gemeinscha­ften“berücksich­tigen muss. Diese Botschaft war der luxemburgi­schen Regierung sehr wichtig.

Schon bei einem Vorbereitu­ngstreffen hatte Außenminis­ter Jean Asselborn (LSAP) dafür plädiert, dass der EU-Gipfel die Lebenswirk­lichkeiten von Grenzregio­nen zur Kenntnis nimmt. „Grenzübers­chreitende Gemeinscha­ften machen rund 30 Prozent der Unionsbürg­er aus“, sagte Asselborn seinen EU-Amtskolleg­en“. „Diese Gemeinscha­ften sind derzeit im Vergleich zu anderen Bevölkerun­gsgruppen überpropor­tional von nationalen Maßnahmen, die die Freizügigk­eit an den Binnengren­zen behindern, betroffen.“

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Foto: AFP EU-Ratspräsid­ent Charles Michel (l.) glaubt, dass es ohne regelmäßig­en Austausch auch nicht zu gemeinsame­n Lösungen kommen kann.

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