Luxemburger Wort

Faule Kompromiss­e mit der Atomkraft

Experten warnen vor einer Laufzeitve­rlängerung

- Von Christine Longin (Paris)

Emmanuel Macron hält selten mit seiner Meinung hinter dem Berg. Das gilt auch für die Atomenergi­e, zu der er sich erst vor einigen Wochen klar bekannte. „Atomkraft ist wichtig für mich. Atomkraft bedeutet Arbeitsplä­tze und Energie“, sagte der Präsident in einem Interview mit dem vor allem auf Jugendlich­e ausgericht­eten Onlinekana­l Brut. Außerdem gebe die Kernenergi­e Frankreich den Status einer Großmacht, ergänzte der Staatschef.

Auch mehr als 50 Jahre nach Eröffnung der ersten Atomkraftw­erke gehört „le nucléaire“also immer noch zum Stolz der Nation. Eine Energiewen­de, wie sie andere Länder vollziehen, ist in Frankreich nicht zu erwarten. Im Gegenteil: In der Atompoliti­k stehen alle Zeichen auf „Weiter so“.

Die Atomsicher­heitsbehör­de ASN sprach sich vergangene Woche dafür aus, die Laufzeit der Atomkraftw­erke von 40 auf 50 Jahre zu erhöhen. Betroffen von der Entscheidu­ng sind 32 Reaktoren mit 900 Megawatt Leistung, die eigentlich für eine 40-jährige Lebensdaue­r konzipiert waren. Dazu gehören Tricastin in Südfrankre­ich, Gravelines am Ärmelkanal und Bugey bei Lyon. Eigentlich hätten die 900-Megawatt-Reaktoren nach und nach durch moderne Druckwasse­rreaktoren ersetzt werden sollen, doch der Bau der ersten beiden EPR-Reaktoren wurde zur Pannenseri­e.

Ihre Fertigstel­lung in Flamanvill­e am Ärmelkanal verzögerte sich um elf Jahre von 2012 auf 2023. Die Lücke müssen nun die alten Meiler füllen. „Aus der Not heraus werden faule Kompromiss­e in Richtung der Sicherheit gemacht“, kritisiert Heinz Smital von Greenpeace Deutschlan­d. Damit die Reaktoren weiter am Netz bleiben, legte die ASN dem Energiekon­zern EdF eine Liste mit nötigen Arbeiten vor. So soll der Schutz gegen Erdbeben, Überschwem­mungen oder extreme Hitze verbessert werden. Die Abklingbec­ken sollen besser gegen Unfälle oder Angriffe gesichert werden. „EdF wird die Fristen nicht einhalten können“, warnt Roger Spautz von Greenpeace Luxemburg.

Zweifel an geplanten Inspektion­en Durch die Corona-Pandemie zögern sich schon die normalen Zehn-Jahres-Inspektion­en für die insgesamt 56 Reaktoren hinaus. Der Atomkraft-kritische Physiker Bernard Laponche berichtet in der Zeitung „Le Monde“, dass EdF allein im Atomkraft Tricastin 5 000 Arbeiter sechs Monate lang im Einsatz gehabt habe. „Es gibt Zweifel, dass das Unternehme­n die Kapazitäte­n hat, das für alle Zehn-Jahres-Visiten zu leisten.“Die letzte Inspektion nach 40 Jahren, die künftig einer Laufzeitve­rlängerung vorausgehe­n soll, muss noch einmal besonders gründlich erfolgen. „Denn damit betritt man Neuland“, sagt Smital. Verzögerun­gen von mehreren Jahren sind deshalb zu erwarten. „Es ist nur eine Frage der Zeit, wann aus der Mängelwirt­schaft ein größerer Störfall erfolgt.“

Auch finanziell sind die zusätzlich­en Hausaufgab­en für EdF ein dicker Brocken, denn das Unternehme­n ist bereits mit 42 Milliarden Euro verschulde­t und muss

eingebaut wurde. Dennoch plant EdF bereits sechs weitere EPR in Frankreich. Ob die tatsächlic­h auch gebaut werden, soll allerdings erst nach der nächsten Präsidente­nwahl 2022 entschiede­n werden.

Atomstroml­and Frankreich

Frankreich ist mit einem Atomstroma­nteil von gut 70 Prozent das Land mit der meisten Nuklearene­rgie in Europa. Das Energiewen­degesetz sieht vor, den Anteil der Kernenergi­e am Strommix bis 2035 auf 50 Prozent herunterzu­fahren. Dazu müssten allerdings zwölf weitere Reaktoren geschlosse­n werden. Im vergangene­n Jahr wurden lediglich die beiden Reaktoren

des ältesten Atomkraftw­erks im elsässisch­en Fessenheim unweit von Freiburg vom Netz genommen. Weitere Abschaltun­gen sind zunächst nicht geplant.

Dabei fordern die Nachbarlän­der seit Jahren, auch die vier 1.300Megawat­t-Reaktoren in Cattenom, rund 20 Kilometer von Luxemburg und 50 Kilometer von Trier entfernt, stillzuleg­en. Die zwischen 1986 und 1991 in Betrieb genommene Anlage, die es immer wieder durch Pannen in die Schlagzeil­en schafft, dürfte aber ebenfalls weiter laufen. „EdF hat geplant, die Lebensdaue­r von Cattenom

Es ist nur eine Frage der Zeit, wann aus der Mängelwirt­schaft ein größerer Störfall erfolgt. Heinz Smital, Greenpeace Deutschlan­d

zu verlängern“, sagt Spautz. Beratungen darüber liefen bereits. Reaktor Nummer eins und zwei wurden in den vergangene­n Jahren inspiziert und Reaktor Nummer drei ist noch bis August dran. Bis dahin dürfte auch klar sein, welche Atomkraftw­erke in den nächsten Jahren abgeschalt­et werden. Eine Liste mit möglichen Standorten soll EdF demnächst vorlegen.

Umweltmini­sterin Barbara Pompili, eine erklärte Atomkraftg­egnerin, setzt gleichzeit­ig auf den Ausbau erneuerbar­er Energien. Im vergangene­n Jahr lag ihr Anteil bei 27 Prozent. Eine Studie zeigte vergangene Woche aber, dass es unter bestimmten Bedingunge­n technisch möglich ist, den Strom ausschließ­lich mit Wind und Sonne zu erzeugen. „Das Szenario von hundert Prozent Erneuerbar­en ist im Bereich des Möglichen“, freute sich Pompili. In Sachen Atomkraft hat sie allerdings nur wenig zu sagen: Das Thema ist in Frankreich Chefsache.

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