Merkels doppelter Turnaround
Die deutschen Patzer bei der Kernenergie bringen den Stromkonzernen Milliarden
Berlin. Zweimal nur. Zweimal in gut 15 Kanzlerin-Jahren hat Angela Merkel die Nerven verloren. An den Herbst 2015, als sie ihre Flüchtlingspolitik über Nacht auf den Wir-schaffen-das-Modus umstellte, erinnert sich die Welt. Bei Nummer eins aber kommt selbst Deutschland ins Grübeln. So sehr hat sich die Republik an die sogenannte Energiewende gewöhnt. Indes: Sie begann Hals über Kopf.
Am 11. März 2011 um 14.46 Uhr Ortszeit bebte vor der Ostküste Japans die See, keine Stunde später trafen 15 Meter hohe Wellen das Atomkraftwerk Fukushima. In Berlin-Regierungsviertel begann da gerade der Freitag. Und nur 72 Stunden später hatte der fast 9 000 Kilometer entfernt tobende Tsunami im Kanzlerinamt scheinbar festgefügte Überzeugungen zertrümmert. Die regierende schwarz-gelbe Koalition erklärte in Person von Außenminister Guido Westerwelle (FDP) den Ausstieg aus der Atomenergie. Und die promovierte Physikerin und Kernkraft-Freundin Merkel (CDU) gab zu verstehen, dass mit diesem GAU auch ihr tiefes TechnologieVertrauen zerschmolz: Wenn „selbst in einem Hochtechnologieland wie Japan die Risiken der Kernenergie nicht sicher beherrscht werden können…“
Fukushima und eine Landtagswahl In der alten Bundesrepublik hatte spätestens seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 schon die halbe Bevölkerung durch Atomspaltung erzeugten Strom für unverantwortlich gehalten. Die andere Hälfte befand, dies sei die Energie der Zukunft. Atomkraftgegner versuchten jahrelang etwa in Brokdorf und Wackersdorf das AKW und die Wiederaufarbeitungsanlage für Brennelemente zu verhindern – letzteres mit Erfolg. Unterdessen bauten die Energiekonzerne Meiler um Meiler, machten mit ihnen jede Menge Gewinn – und hielten das für ein in jeder Hinsicht grenzenloses Geschäftsmodell.
Diesen Traum beendete der „Atomkonsens“der ersten rot-grünen
Atomkraft, Beispiel Grohnde, hat keine Zukunft.
Bundesregierung mit den Stromkonzernen im Jahr 2000. Ohne festen Schlusstermin – aber mit „Reststrommengen“, die das Abschalten zwischen 2015 und 2020 erwarten ließen. Schwarz-Gelb aber beschloss am 28. Oktober 2010 den Ausstieg aus dem Ausstieg. Und verlängerte die Laufzeiten um bis zu 14 Jahre.
Merkels Ausstieg aus dem Ausstieg vom Ausstieg war nicht allein der Katastrophe von Fukushima geschuldet. Sondern auch der auf den 27. März 2011 terminierten
Landtagswahl in Baden-Württemberg. Dort war ihr Wiedereinstieg ein großes Thema – und am Tag nach Fukushima demonstrierten in Stuttgart statt der 40 000 angemeldeten AKW-Gegner 60 000. Da folgte die Merkel-Wende Nummer 2.
Trotzdem verloren die Christdemokraten das Ländle nach 58 Jahren an die Grünen; und mindestens bis zum Entscheid am Sonntag in einer Woche regiert in Stuttgart noch immer der damalige Sieger Winfried Kretschmann. Noch teurer aber als für die CDU ist der doppelte Turnaround für die Bevölkerung: Die Energieerzeuger lassen sich den Eingriff in ihre Eigentumsrechte teuer bezahlen. Das gelingt ihnen auch deshalb sehr gut, weil Merkels endgültiges Ausstiegsgesetz so schnell gebastelt wurde, dass es vor Fehlern strotzt.
Fehlerhaftes Ausstiegsgesetz
2016 erklagten sich die AKW-Betreiber grundsätzlichen Schadenersatz. 2017 dann bekamen sie die Brennelementesteuer zurück – sieben Milliarden Euro. Der schwedische Konzern Vattenfall fordert vor einem Schiedsgericht in Washington 6,1 Milliarden – plus Anwaltsund Verfahrenskosten. 2018 kam das nächste Kostenausgleichsgesetz – das Bundesverfassungsgericht kassierte es als „unzumutbar“im vergangenen Oktober; hier geht es um eine bis drei Milliarden. Und dann hat die Bundesregierung Vattenfall, RWE, Eon und EnBW 2017 gegen 24 Milliarden auch noch die Endlagerung des Atommülls abgenommen. Kostenvoranschlag bis 2100: knapp 170 Milliarden. Stand heute.
Dazu kommen die Kosten für den Rückbau des strahlenden Erbes: zehn bis 15 Jahre pro AKW. Auch deswegen ist der Strom nirgendwo sonst in der EU so teuer wie in Deutschland: Die Konzerne und der Staat langen zu. Der rotgrüne Ausstieg von 2002 war – das weiß inzwischen auch Merkel – gegen den ihren eine stabile Angelegenheit. Und obendrein ein echtes Schnäppchen. art