Der rote Judas
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„Zum Zeitpunkt, als dieses Foto geknipst wurde, war er bereits vier oder fünf Tage tot.“Er nahm weitere Fotos der Leiche von der Wand, ging zu Kasimir und reichte sie ihm. „Was auf diesen Fotos aussieht wie ein Suizid, ist in Wirklichkeit ein Mord gewesen.“
Die Kollegen raunten und tuschelten, Kasimir reichte die Bilder weiter und schüttelte unwillig den Kopf, Heinze schrieb mit, und Kupfer und Junghans hingen aufmerksam an Stainers Lippen.
„Bitte beachten Sie den offenen Vogelkäfig, meine Herren, das Blut an den Fingernägeln des Toten – vor allem am Daumen – und das fleckige Parkett.“Nacheinander reichte er die entsprechenden Fotos in die erste Reihe und argumentierte dann ähnlich, wie am Abend zuvor Prollmann gegenüber.
„Murrmanns Bruder schließt einen Selbstmord kategorisch aus.“Stainer zählte die Gründe auf, die Johannes Murrmann ihm genannt hatte. „Und er hat recht – Robert Murrmann starb nicht in der Schlinge unter dem Treppengeländer, sondern ist auf dem Parkett ermordet worden, vor dem Sekretär. Er hat sich gewehrt und dem Mörder Gesicht oder Hände oder beides zerkratzt. Danach hat dieser ihn ans Treppengeländer gehängt. Wir müssen also von einem kräftigen
Täter ausgehen, vielleicht auch von mehreren.“
Er nahm das Foto mit dem auffälligen Sohlenprofil von der Tafel, reichte es dem Polizeirat und wandte sich an Kupfer und Heinze. „Eine der gesicherten Fußspuren weist eine Besonderheit auf, ein Stein oder Ähnliches im Absatzprofil. Da viele Personen gestern Abend die Wohnung betreten haben, müssen zunächst die Sohlen aller untersucht werden, bevor wir diese hier einem Täter zuordnen dürfen. Auch die Analyse der Fingerabdrücke steht noch aus. Dennoch wage ich jetzt schon die Behauptung: Was zunächst aussieht wie ein vorgetäuschter Suizid, der einen Mord vertuschen soll, ist in Wirklichkeit ein Mord durch Strangulation, den der Täter gar nicht vertuschen wollte …“
„Wie kommen Sie bloß auf so eine hanebüchene Geschichte?“, rief der Polizeirat dazwischen. Sein langes, sonst so blasses Gesicht war auf einmal hochrot.
„… denn er hat nicht einmal versucht, den Urin und das getrocknete Blut vom Parkett zu wischen“, fuhr Stainer ungerührt fort. „Das Blut untersucht Dr. Prollmann bereits im gerichtsmedizinischen Institut, um es mit dem unter den Fingernägeln des Toten zu vergleichen. Ich bin jetzt schon überzeugt davon, dass sein Bericht uns zwei unterschiedliche Blutgruppen liefern wird.“
„Seit wann kann man bei getrocknetem Blut die Blutgruppe bestimmen?“, fragte Kasimir mit der Zuversicht des Wissenden, nahm seinen Zwicker ab und blickte Bestätigung heischend nach allen Seiten.
„Das machen die Kollegen in Berlin und Hamburg seit über einem Jahr, Herr Polizeirat“, meldete Heinze sich zu Wort.
Und der neue, Junghans, ergänzte: „Die Italiener haben die Methode während des Krieges entwickelt.“Eine auffällige Narbe zog sich über seine linke Wange. „Professor Kockel von unserer gerichtsmedizinischen Fakultät hat sie letzten Sommer eingeführt. Ziemlich genial, erspart uns eine Menge Arbeit.“
„So? Die Italiener?“Kasimir runzelte die Stirn und spitzte die Lippen. „Und Dr. Prollmann versteht sich darauf? Da bin ich ja mal gespannt.“Er schüttelte wieder den
Kopf und das eher ungläubig als verblüfft. „Bitte kommen Sie endlich zu den Morden in der Weingarten-Villa, Herr Kollege Stainer!“
„In diesem Fall sind wir zum Glück erheblich weiter als im Mordfall Murrmann.“Die letzten beiden Worte betonte Stainer, bevor er sich zur rechten Seite der Korktafel wandte; das Briefkuvert mit dem Absender aus Dinant und das Foto von Mademoiselle Leclerc hatte er bewusst nicht erwähnt, denn er konnte sich selbst noch keinen Reim darauf machen. „Nach nur zwölf Stunden kennen wir bereits zwei Täter, und einen haben wir sogar schon erwischt, wenn man so will.“
Stainer deutete auf das Foto einer Leiche. „Dringend tatver- dächtig ist Karl Krüger, vierundzwanzig Jahre alt, arbeitslos, wohnhaft in Stötteritz, Zuckelhäuserstraße. Bei uns aktenkun- dig seit Januar 1919. Anklage wegen Einbruchs, sechs Monate Gefängnis. Einige Handgranatensplitter und drei Kugeln haben ihn getroffen. Welche tödlich war, wird uns spätestens morgen die Gerichtsmedizin berichten. Der tote Krüger hielt eine Luger in der Hand, als man ihn gestern gefunden hat. Die Kollegen von der Wache in Stötteritz durchsuchen gerade seine Wohnung und Werkstatt.“
Stainer nahm die Jacke vom rechten Tisch. „Der zweite Täter hat uns freundlicherweise Jacke und Papiere am Tatort zurückgelassen. Max Heiland, fünfundzwanzig, arbeitslos, wohn- haft in Stötteritz, Naunhoferstraße, verheiratet, ein Kind. Wir fahnden nach ihm. Seine Frau weiß noch nicht, dass er unter dringendem Mordverdacht steht. Gestern Abend wähnte sie ihn bei seinem Boxtrainer. Sie hat mir seine sämtlichen Freunde, Verwandten und Bekannten und deren Adressen genannt, so- weit sie die eben kennt. Wir haben heute Morgen bereits angefangen, diese Liste abzuarbeiten, und werden gleich nach der Besprechung damit fortfahren.“
„Sorgen Sie dafür, dass alle Polizeiwachen in Leipzig sein Foto erhalten“, befahl Kasimir. „Auch die ländlichen Außenstellen.“
„Habe ich selbstverständlich schon in die Wege geleitet.“Stainer unterdrückte seinen Ärger, legte die Jacke weg und nahm einen dieser neuartigen Zellophanbeutel vom Asservatentisch hoch, ein Werbeprospekt war hinter der Folie zu erkennen.
„Doch um Gottes willen keine öffentliche Fahndung!“, rief Kasimir wieder dazwischen. „Die Presse darf nicht erfahren, dass wir den Mann suchen. Weiter!“
„Den Prospekt haben wir in Heilands Jackentasche gefunden“, fuhr Stainer fort. „Es kündigt einen Auftritt des Berliner Kabarettisten Otto Reutter an, der gestern Abend in Barthels Hof stattfand.“Er nickte Kupfer zu, der am Morgen in Barthels Hof ermittelt hatte.
„Weingarten und Baumann haben die Veranstaltung gestern Abend besucht“, sagte der Oberwachtmeister.