Zwischen Volksnähe und Exzentrik
Zoom auf das Literaturarchiv: Erinnerungen an Andrée (Schnouky) Viénot-Mayrisch (1901-1978)
Die wenigsten Persönlichkeiten bleiben über längere Zeiträume im kollektiven Gedächtnis einer Stadtbevölkerung verankert. Doch die Erinnerung an Andrée Mayrisch, die Tochter von Aline Mayrisch-de St.Hubert und Émile Mayrisch, die 1901 in Düdelingen geboren wurde, verblasste kaum. Noch heute verbinden viele Düdelinger Bürger den Kosenamen Schnouky mit einer außergewöhnlichen Frau, die des Öfteren hoch zu Ross durch den Ort galoppierte.
Die Garçonne
Dieser Beitrag konzentriert sich daher nicht auf Andrée Mayrischs beeindruckendes politisches Wirken, sondern auf ihr gesellschaftliches Leben und Erscheinungsbild als Jugendliche. Hier soll versucht werden, ihre menschlichen Qualitäten, die sich im Anekdotischen und Alltäglichen widerspiegeln, zu würdigen. Gerade diese Aspekte ihres Lebens faszinieren bis heute. Sie hätte bestimmt Gefallen daran gefunden, dass eine Straße in Düdelingen, im Viertel Lenkeschléi, laut Beschluss des Gemeinderates vom 13. Februar 2015 ihren Namen trägt: Rue Madame Andrée Viénot-Mayrisch (1901-1978). Vielleicht hätte man ihren Kosenamen „Schnouky“zusätzlich anbringen können…
Als Tochter einer Familie der gehobenen Gesellschaftsschicht blieben ihr sicher die exzentrischen Verhaltensweisen der sogenannten Roaring Twenties nicht verborgen. Natürlich war Düdelingen nicht mit Paris, London, Berlin oder gar New York zu vergleichen. Allerdings drangen in das großbürgerliche Milieu der Mayrischs auch die modernen Ideen der Zeit vor. Sportliche Betätigung, Jazzmusik, Mode spielten eine zunehmend wichtige Rolle. Das Bild der Frau veränderte sich besonders im städtischen Milieu rasant. Die Bezeichnung „Garçonne“für junge Damen, die ihren männlichen Freunden in nichts nachstehen mochten, charakterisiert das neue Selbstbewusstsein der Mädchen und Frauen. Ludivine Jehin hat diesem Phänomen einen Artikel in den Cahiers Luxembourgeois (1, 2018 S.71-95) gewidmet, in dem es u.a. um die Mutter Aline geht. (Ludivine Jehin: Folle figure de garçonnes. Nicolas Konert, Aline Mayrisch-de Saint Hubert et Marie-Henriette Steil)
Wie ungewöhnlich schon die Jugend von Andrée Mayrisch verlief, zeigen einige Dokumente, die im CNL aufbewahrt werden. Dort findet sich ein Mitgliederverzeichnis des sogenannten „Indianerclubs“, dem sie als einziges Mädchen unter 29 Jungen angehörte. Bereits als junges Mädchen steht sie für ein damals höchst außergewöhnliches Frauenbild.
Andrée Mayrisch nimmt innerhalb der Familie eine Sonderstellung ein. Ihre Interessen liegen nicht so sehr im künstlerischen Bereich, wie etwa bei ihrer Mutter Aline, was natürlich nicht heißt, dass der Kontakt mit dem intellektuellen Geschehen auf Schloss Colpach sie nicht beeinflusst hätte. Doch sie beeindruckt vor allem durch die Eigenständigkeit ihrer Persönlichkeit, die sich schon an ihrer Sammlung von
Broschüren aus der Jugendzeit erkennen lässt. Hier finden sich Titel wie etwa: Aux Éclaireurs – Ambulance for Badge – Harker´s Sports – Pfadfinderbuch für junge Mädchen – The Girl Guide Movement in Relation to the Roman Catholic Church – Camp d´Entrainement pour Jeunes Filles – La Préparation d’une Éclaireuse – We´campe´eren ech?. Die Begeisterung für das Pfadfinderwesen nahm zu dieser Zeit in Luxemburg deutlich zu, und schon diese kurze Auswahl zeigt Andrée Mayrischs Interesse für die internationale Pfadfinderbewegung, und deren Bedeutung für das Selbstbewusstsein von Mädchen und Frauen. Dabei geht es ihr auch um Unabhängigkeit, guten Geschmack und Stil in allen Bereichen des Lebens. Als Beispiel dafür findet sich in der Sammlung eine Broschüre von Elisabet Neff mit dem vielversprechenden Titel Auch allein – wohne fein / Die Wohnung der Junggesellin (Stuttgart 1927).
Das Girl-Guide
Auftrag und Vermächtnis
Ohne Zweifel werden die Grundlagen für Andrée Mayrischs bedeutenden Lebensweg bereits in jungen Jahren gelegt. Nicht zufällig begeistert sie sich später für die sozialistische Bewegung. Sie studiert Medizin in der Schweiz, Politologie in Paris, Wirtschaftswissenschaften in London. Zahlreiche Reisen nach Italien, Deutschland, in die Schweiz und die UdSSR erweitern ihren Horizont. Ihr ganzes Leben bleibt sie den Idealen von sozialer Gerechtigkeit, Freiheit und Toleranz verbunden. So verwundert es nicht, dass sie sich für Hygiene, Sport, Menschenrechte, Gesundheit und Pflege alter Menschen einsetzt. Daher liegen ihr auch die Belange des Roten Kreuzes am Herzen. Es ist also folgerichtig, dass sie Schloss Colpach dieser Organisation vermacht. Andrée Mayrischs Überzeugungen, die sie seit ihrer Jugend in Dü
delingen vertrat, bestimmten ihr politisches Wirken in der Assemblée Nationale und in zwei Regierungen Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg (1946/47). Ihre Nähe zu den Bürgern bewies sie als Bürgermeisterin von Rocroi von 1953 bis zu ihrem Tod 1978.
Andrée Mayrischs humanistisches Vermächtnis und ihre liebenswerte Exzentrik können auch heute noch Inspirationsquelle
Passfoto von Andrée Viénot-Mayrisch. (Fonds Andrée Mayrisch, CNL L-38) für die Nachwelt sein. Das Kasemattentheater erinnert dieses Jahr mit einem Monolog aus ihren Briefen an „Schnouky“, diese außergewöhnliche Persönlichkeit, deren Ausstrahlung bis heute weit über unsere Grenzen hinauswirkt.
* Rob Zeimet ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Centre national de littérature.