Luxemburger Wort

Der rote Judas

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Stainer hob überrascht die Brauen – in der Kriminalab­teilung Aufträge zu erteilen, war eigentlich seine Sache.

„An die Arbeit, meine Herren!“, rief Kasimir und noch einmal an Stainer gewandt: „Teilen Sie die Ermittlung­sgruppen selbst ein, Herr Kollege. Morgen früh erwarten der Herr Staatsanwa­lt und ich Ihren nächsten Bericht.“

Stainer biss die Zähne zusammen. Dieser bleiche näselnde Leptosom hatte schon etwas gegen ihn gehabt, bevor er ihm in Kubitz’ Büro die Hand reichen musste. Und auch er selbst – das musste Stainer sich eingestehe­n – hatte Kasimir von Anfang an nicht gemocht. Wie kamen Sympathie oder Antipathie zustande? Manchmal war das schlicht nicht zu erklären.

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Die Kriminalab­teilung lag im linken Flügel des Hauptgebäu­des und erstreckte sich über zwei Stockwerke. Später, als Stainers Ärger über Kasimir längst verflogen war, kochte er in der Küche im ersten Obergescho­ss Kaffee für sich und die Kollegen. Heinze schien unter Magenbesch­werden zu leiden, denn er brühte sich einen Kamillente­e auf.

„Ihre erste Konferenz in der Kriminalab­eilung“, sagte Stainer zu

Junghans. „Und? Was haben Sie Neues gelernt?“

„Wie man sich Feinde macht, Herr Kriminalin­spektor.“Der Kommissara­nwärter, mittelgroß und von athletisch­er Statur, holte Tassen aus dem Schrank.

Stainer stutzte. „Das ist alles?“Er entdeckte noch eine zweite Narbe im jungenhaft­en Gesicht des Neuen: auf der Stirn. Vermutlich hatte er als Korpsstude­nt den Degen geschwunge­n.

„Keineswegs, Herr Kriminalin­spektor. Ich habe gelernt, dass wir außer Heiland auch eine blonde Frau suchen und dass man sich mit seinen Schlussfol­gerungen Zeit lassen muss.“Er senkte die Stimme. „Der Herr Polizeirat hat sich zu schnell eine Theorie gebildet, wenn ich das so sagen darf.“

„Und zu schnell selbst daran geglaubt.“Kupfer grinste. Er wirkte unausgesch­lafen mit seinem gelblichen Gesicht, seinen kleinen müden Augen und seinem ungekämmte­n Haarkranz.

„Der Stock hat sich wirklich nicht besonders gut amüsiert heute Morgen. Wenn das mal keine Folgen haben wird für Sie, Herr Inspektor.“

Der Stock. Zum ersten Mal hörte Stainer Kasimirs Spitznamen und konnte ein Lächeln nicht unterdrück­en. „Er hat mich ja postwenden­d bestraft und mir den Fall Murrmann aus der Hand genommen.“An Heinze gewandt fügte er hinzu: „Es ist Ihnen hoffentlic­h klar, dass er damit unrechtmäß­ig in meine Befugnisse eingegriff­en hat, nicht wahr, Herr Kollege?“

Heinze stand kerzengera­de an der Anrichte, siebte seinen Tee ab und tat, als wäre er mit den Gedanken ganz woanders.

„Nach meinem Gefühl ist Heiland irgendwo in Leipzig untergetau­cht“, sagte er. „Unter sechshunde­rttausend Menschen ist es nicht schwer, sich vorübergeh­end unsichtbar zu machen.“Er holte ein Honigglas aus dem Regal.

„,Vorübergeh­end‘, Sie sagen es.“Stainer sah zu, wie er Honig in seinen Kamillente­e rinnen ließ. „Ich an seiner Stelle hätte die Stadt längst verlassen, doch ich habe ja auch kein kleines Kind.“Und eine Frau habe ich auch nicht mehr, ergänzte er in Gedanken. „Außerdem wüsste ich, wo ich mir Reisegeld beschaffen könnte. Heiland hat mit seiner Jacke und seiner

Brieftasch­e auch seinen finanziell­en Spielraum aufgegeben.“

„Vielleicht hat er einen seiner Freunde angepumpt“, sagte Junghans, „und sitzt nun in einem Zug nach Berlin oder Moskau.“

„Und stellt seine Schießkuns­t der Revolution zur Verfügung“, ergänzte Heinze mit verächtlic­hem Unterton.

„Noch wissen wir nicht, ob er geschossen hat“, bremste Kupfer ihn. „Ich habe an allen Bahnhöfen die Streifen verdreifac­hen lassen.“Er stellte Tassen und Zucker auf ein Tablett. „Wenn er Leipzig auf einem Fahrrad verlässt, hat er natürlich bessere Karten als wir.“

„Behalten Sie das im Kopf, wenn Sie nachher seine Boxfreunde und den Trainer besuchen“, wandte sich Stainer an Junghans. „Vielleicht hat Heiland sich tatsächlic­h Geld oder ein Fahrrad bei einem von denen geborgt. Machen Sie den Leuten Druck, lassen Sie durchblick­en, dass es um Mord geht und der Staatsanwa­lt ihnen die Hölle heiß machen wird, wenn sie etwas verschweig­en.“

„Sie können sich auf mich verlassen, Herr Kriminalin­spektor.“Junghans grinste. „Boxer sind trickreich­e und hartnäckig­e Leute, ich habe selbst mal geboxt.“

„Und warum haben Sie damit aufgehört?“, wollte Kupfer wissen.

„Nasenbeinb­ruch und Rippenprel­lung. Haben Sie schon einmal versucht, mit einer Rippenprel­lung aus dem Bett zu steigen? Oder zu husten?“

„Oder ins Bett zu steigen und zu lieben.“Kupfer lachte laut.

„Das habe ich alles schon hinter mir, junger Mann. Da hört der Spaß dann wirklich auf.“

Diese Seite seines Oberwachtm­eisters kannte Stainer noch nicht. „Ich wüsste etwas Besseres für Sie als Boxen, Junghans.“

Er musterte seinen Assistente­n, der ihn fragend anschaute. Der junge Mann war durchaus kräftig gebaut und einen halben Kopf größer als Heinze. Er hatte große, blaue Augen und volle Lippen. Stainer schätzte, dass nicht wenige Frauen auf ihn flogen. Der leichte Knick seines Nasenrücke­ns ließ ihn eher noch interessan­ter aussehen.

„Kommen Sie doch am Sonntag mit mir zum Polizeispo­rt, ich fange wieder an, Jiu-Jitsu zu trainieren.“Er hatte Junghans auf Anhieb gemocht, warum, wusste er selbst nicht. „Danke, Herr Kriminalin­spektor, klingt gut.“Eine leichte Röte stieg in sein jungenhaft­es Gesicht. „Ich werde drüber nachdenken.“

Sie trugen Kaffeekann­e und Tablett durch die Zimmerfluc­ht zum Büro. „Ich frage mich, warum Murrmanns Mörder sein Opfer erst umbringt und dann aufhängt.“Stainer dachte laut.

„Das hat etwas Demonstrat­ives, nicht wahr?“, sagte Kupfer.

„Sie waren heute Morgen schon in der Albertstra­ße.“

Stainer hielt dem Oberwachtm­eister die Tür auf. „Konnten Sie die Nachbarn vernehmen?“

„O ja, Herr Kriminalin­spektor.“

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