Der rote Judas
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Stainer hob überrascht die Brauen – in der Kriminalabteilung Aufträge zu erteilen, war eigentlich seine Sache.
„An die Arbeit, meine Herren!“, rief Kasimir und noch einmal an Stainer gewandt: „Teilen Sie die Ermittlungsgruppen selbst ein, Herr Kollege. Morgen früh erwarten der Herr Staatsanwalt und ich Ihren nächsten Bericht.“
Stainer biss die Zähne zusammen. Dieser bleiche näselnde Leptosom hatte schon etwas gegen ihn gehabt, bevor er ihm in Kubitz’ Büro die Hand reichen musste. Und auch er selbst – das musste Stainer sich eingestehen – hatte Kasimir von Anfang an nicht gemocht. Wie kamen Sympathie oder Antipathie zustande? Manchmal war das schlicht nicht zu erklären.
27
Die Kriminalabteilung lag im linken Flügel des Hauptgebäudes und erstreckte sich über zwei Stockwerke. Später, als Stainers Ärger über Kasimir längst verflogen war, kochte er in der Küche im ersten Obergeschoss Kaffee für sich und die Kollegen. Heinze schien unter Magenbeschwerden zu leiden, denn er brühte sich einen Kamillentee auf.
„Ihre erste Konferenz in der Kriminalabeilung“, sagte Stainer zu
Junghans. „Und? Was haben Sie Neues gelernt?“
„Wie man sich Feinde macht, Herr Kriminalinspektor.“Der Kommissaranwärter, mittelgroß und von athletischer Statur, holte Tassen aus dem Schrank.
Stainer stutzte. „Das ist alles?“Er entdeckte noch eine zweite Narbe im jungenhaften Gesicht des Neuen: auf der Stirn. Vermutlich hatte er als Korpsstudent den Degen geschwungen.
„Keineswegs, Herr Kriminalinspektor. Ich habe gelernt, dass wir außer Heiland auch eine blonde Frau suchen und dass man sich mit seinen Schlussfolgerungen Zeit lassen muss.“Er senkte die Stimme. „Der Herr Polizeirat hat sich zu schnell eine Theorie gebildet, wenn ich das so sagen darf.“
„Und zu schnell selbst daran geglaubt.“Kupfer grinste. Er wirkte unausgeschlafen mit seinem gelblichen Gesicht, seinen kleinen müden Augen und seinem ungekämmten Haarkranz.
„Der Stock hat sich wirklich nicht besonders gut amüsiert heute Morgen. Wenn das mal keine Folgen haben wird für Sie, Herr Inspektor.“
Der Stock. Zum ersten Mal hörte Stainer Kasimirs Spitznamen und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Er hat mich ja postwendend bestraft und mir den Fall Murrmann aus der Hand genommen.“An Heinze gewandt fügte er hinzu: „Es ist Ihnen hoffentlich klar, dass er damit unrechtmäßig in meine Befugnisse eingegriffen hat, nicht wahr, Herr Kollege?“
Heinze stand kerzengerade an der Anrichte, siebte seinen Tee ab und tat, als wäre er mit den Gedanken ganz woanders.
„Nach meinem Gefühl ist Heiland irgendwo in Leipzig untergetaucht“, sagte er. „Unter sechshunderttausend Menschen ist es nicht schwer, sich vorübergehend unsichtbar zu machen.“Er holte ein Honigglas aus dem Regal.
„,Vorübergehend‘, Sie sagen es.“Stainer sah zu, wie er Honig in seinen Kamillentee rinnen ließ. „Ich an seiner Stelle hätte die Stadt längst verlassen, doch ich habe ja auch kein kleines Kind.“Und eine Frau habe ich auch nicht mehr, ergänzte er in Gedanken. „Außerdem wüsste ich, wo ich mir Reisegeld beschaffen könnte. Heiland hat mit seiner Jacke und seiner
Brieftasche auch seinen finanziellen Spielraum aufgegeben.“
„Vielleicht hat er einen seiner Freunde angepumpt“, sagte Junghans, „und sitzt nun in einem Zug nach Berlin oder Moskau.“
„Und stellt seine Schießkunst der Revolution zur Verfügung“, ergänzte Heinze mit verächtlichem Unterton.
„Noch wissen wir nicht, ob er geschossen hat“, bremste Kupfer ihn. „Ich habe an allen Bahnhöfen die Streifen verdreifachen lassen.“Er stellte Tassen und Zucker auf ein Tablett. „Wenn er Leipzig auf einem Fahrrad verlässt, hat er natürlich bessere Karten als wir.“
„Behalten Sie das im Kopf, wenn Sie nachher seine Boxfreunde und den Trainer besuchen“, wandte sich Stainer an Junghans. „Vielleicht hat Heiland sich tatsächlich Geld oder ein Fahrrad bei einem von denen geborgt. Machen Sie den Leuten Druck, lassen Sie durchblicken, dass es um Mord geht und der Staatsanwalt ihnen die Hölle heiß machen wird, wenn sie etwas verschweigen.“
„Sie können sich auf mich verlassen, Herr Kriminalinspektor.“Junghans grinste. „Boxer sind trickreiche und hartnäckige Leute, ich habe selbst mal geboxt.“
„Und warum haben Sie damit aufgehört?“, wollte Kupfer wissen.
„Nasenbeinbruch und Rippenprellung. Haben Sie schon einmal versucht, mit einer Rippenprellung aus dem Bett zu steigen? Oder zu husten?“
„Oder ins Bett zu steigen und zu lieben.“Kupfer lachte laut.
„Das habe ich alles schon hinter mir, junger Mann. Da hört der Spaß dann wirklich auf.“
Diese Seite seines Oberwachtmeisters kannte Stainer noch nicht. „Ich wüsste etwas Besseres für Sie als Boxen, Junghans.“
Er musterte seinen Assistenten, der ihn fragend anschaute. Der junge Mann war durchaus kräftig gebaut und einen halben Kopf größer als Heinze. Er hatte große, blaue Augen und volle Lippen. Stainer schätzte, dass nicht wenige Frauen auf ihn flogen. Der leichte Knick seines Nasenrückens ließ ihn eher noch interessanter aussehen.
„Kommen Sie doch am Sonntag mit mir zum Polizeisport, ich fange wieder an, Jiu-Jitsu zu trainieren.“Er hatte Junghans auf Anhieb gemocht, warum, wusste er selbst nicht. „Danke, Herr Kriminalinspektor, klingt gut.“Eine leichte Röte stieg in sein jungenhaftes Gesicht. „Ich werde drüber nachdenken.“
Sie trugen Kaffeekanne und Tablett durch die Zimmerflucht zum Büro. „Ich frage mich, warum Murrmanns Mörder sein Opfer erst umbringt und dann aufhängt.“Stainer dachte laut.
„Das hat etwas Demonstratives, nicht wahr?“, sagte Kupfer.
„Sie waren heute Morgen schon in der Albertstraße.“
Stainer hielt dem Oberwachtmeister die Tür auf. „Konnten Sie die Nachbarn vernehmen?“
„O ja, Herr Kriminalinspektor.“