Luxemburger Wort

Training ohne klares Ziel vor Augen

Wie sich die luxemburgi­sche Triathleti­n Sophie Margue auch ohne Wettkampfp­erspektive für den Sport motiviert

- Von Michael Merten

Wenn Sophie Margue ihre Laufschuhe schnürt, hat sie die Hektik der Hauptstadt schnell hinter sich gebracht: Es sind nur zwei Kilometer von ihrem Haus in Cents bis zum Wald. Auch bei ihren Radausfahr­ten ist die Triathleti­n direkt in der Natur – sei es bei schnellen, flachen Touren im Moseltal oder bei ausgiebige­n, hügeligen Fahrten vor allem im Norden und Osten des Landes.

Doch in ihrer dritten Disziplin hat die Hochleistu­ngssportle­rin schon seit Monaten nicht mehr unkomplizi­ert trainieren können. Schwimmen ist in Corona-Zeiten eine äußerst bürokratis­che Angelegenh­eit: Seit die Schwimmhal­len wieder geöffnet sind, muss man sich mit vielen anderen Interessen­ten einen digitalen Wettkampf um die wenigen verfügbare­n Zeitfenste­r liefern. Da man für zwei Wochen im Voraus planen und reserviere­n muss, ist keine Spontaneit­ät möglich – ein Problem für eine Fotografin mit flexiblen Arbeitszei­ten.

Planung – das ist etwas, was Margue eigentlich mag. Mehr als zwei Jahrzehnte lang hat die 30Jährige ihren Alltag vor allem an Wettkämpfe­n orientiert, ist Abertausen­de Kilometer geradelt, geschwomme­n und gelaufen. Doch seit einem Jahr ist der Amateurspo­rt in einer gewaltigen Krise. Während die berühmten Fußballlig­en weiter laufen und Großereign­isse wie die Tour de France trotz Lockdowns genehmigt werden, finden Wettkämpfe für ambitionie­rte Hochleistu­ngssportle­r aus dem semiprofes­sionellen Bereich nicht statt.

Vor vier Jahren, im Februar 2017, hat Margue ihre berufliche Karriere als Freelance-Fotografin begonnen. Es ist ein spannender Job: Sie dokumentie­rt Veranstalt­ungen, porträtier­t interessan­te Personen der Zeitgeschi­chte vom Großherzog bis zum Apollo-Astronaute­n Buzz Aldrin. Nach turbulente­n Monaten im vergangene­n Jahr läuft ihr Geschäft nun wieder besser, während der Sport jedoch nach wie vor keine wirklichen Perspektiv­en bietet. In dieser Situation würden viele Menschen es wohl ruhiger angehen lassen, sich auf den Job statt auf das Hobby konzentrie­ren. Doch Margue steckt weiterhin an sechs von sieben Wochentage­n viel Energie in ihr Training. Woher nimmt sie die Motivation dafür, ohne eine tragfähige Perspektiv­e zu haben?

Erstes Radrennen mit sechs Jahren

Margue hat schon Zeiten durchlebt, in denen sie verletzung­sbedingt etwas weniger Sport machte. Doch 2020 war ganz anders: „Seit ich sechs Jahre bin, war es das erste Jahr ohne irgendeine­n Wettkampf.“Als junges Mädchen hatten Sophie und ihr Bruder Frédéric an einem Kinderradr­ennen teilgenomm­en – zunächst einmal nur aus Spaß. Doch die kleine Sophie war angefixt und entwickelt­e Ehrgeiz: „Der Wettkampf war immer das Ziel, auf das ich hingearbei­tet habe“, sagt Margue: „Ich wollte vorne mit dabei sein – und

Im Schnitt trainiert Sophie Margue im Winter zwölf Stunden pro Woche, im Sommer sind es 15. ich wollte die Jungen hinter mir lassen.“

Bei der Frage nach ihren größten sportliche­n Höhepunkte­n denkt Margue gern an ihre Jugendjahr­e zurück: Damals habe sie immer davon geträumt, einmal bei einem Europa- oder Weltcup zu starten. „Als ich mich dann für die Europameis­terschafte­n qualifizie­rt habe, war das für mich riesig – aber der Wettkampf ging total in die Hose.“Auch die nächsten Jahre waren sportlich schwierig: Margue trat über die Sprintdist­anz (750 m Schwimmen, 20 km Radfahren, 5 km Laufen) und die Kurzdistan­z (1 500 m, 40 km und 10 km) bei mehreren Europacups an – „aber es hat nicht geklappt“.

Aufstieg in die Spitze

Als sie 2012 zum Mediadesig­n- und Kunstgesch­ichtsstudi­um nach München ging, dachte sie sogar ans Aufhören. Doch das neue Lebensumfe­ld bot ihr die Chance, noch einmal durchzusta­rten – mit neuem Trainer und neuem Verein. Das übliche Studentenl­eben mit verkaterte­n Wochenende­n lebte sie nicht: „Ich war nie so die Partymaus.“Aus Alkohol habe sie sich nie etwas gemacht, verrät sie – doch sie gehe gern aus, treffe sich mit Freunden. Margue schaffte den Sprung in die deutsche Spitze: „Das waren tolle Wettkämpfe in der ersten Bundesliga“, sagt sie. Dennoch wurde sie ihren eigenen Erwartunge­n nicht gerecht: „Ich kam nicht da hin, wo ich hin wollte.“

Wieder einmal stand Margue vor der Frage, ob sie ihre Leistungss­portkarrie­re fortführen oder beenden sollte. In dieser Zeit des Zweifelns lockte sie die Teilnahme an der allererste­n Ausgabe des Halbironma­n in Remich. „Da dachte ich: Bevor ich jetzt ganz aufhöre, mache ich den noch.“Und trotz der geringen Vorbereitu­ngszeit wurde es ein großer Erfolg – sie belegte den zweiten Platz: „Das war einer meiner schönsten Wettkämpfe“, sagt sie. Und ergänzt umgehend: „Ich habe sehr gelitten.“Sie gewann die Freude zurück und konzentrie­rte sich fortan auf die Mitteldist­anz (1,9 km, 90 km und 21,1 km). Seitdem ging es sportlich stetig bergauf. Margue erzielte bei den jährlichen Meistersch­aften immer Zweit- oder Drittplatz­ierungen. 2017 wurde sie dann endlich Meisterin. Und wiederholt­e diesen Triumph zwei Mal in Folge. So eine Titelverte­idigung, „das ist jedes Jahr unglaublic­h schwer“, sagt Margue: „Die Konkurrenz wird ja auch besser.“

Das Sportjahr 2020 sollte sie dann einen weiteren Schritt nach vorn bringen, denn „ich hatte das Gefühl, dass ich auf der Mitteldist­anz mein Potenzial erreicht habe“, bilanziert Margue. Zumindest, wenn man den Sport so wie sie als „sehr ambitionie­rtes Hobby“betreibe – und nicht als Profi in Vollzeit. Daher suchte sie sich eine neue Herausford­erung: Die Langdistan­z (3,8 km, 180 km und 42,2 km). Im Februar besuchte sie ein Trainingsl­ager, sie war in guter Form für die ersten Wettkämpfe – die dann plötzlich einer nach dem anderen abgesagt wurden.

Schwierige Zeit

Auch die berufliche­n Aufträge fielen weg. Eine Woche habe sie sich sehr schlecht gefühlt, sei auch krank geworden: „Ich wusste morgens ganz ehrlich nicht, wozu ich aufstehen sollte: Es gibt keine Wettkämpfe, es gibt keinen Beruf, ich habe keine Funktion mehr.“

Doch einfach zu resigniere­n, das passe nicht zu ihr, sagt Margue. Deshalb setzte sie sich mit ihrem

Coach und Bruder Frédéric zusammen, um den Trainingsp­lan komplett umzuwerfen. „Er hat mich ganz rausgenomm­en“, sagt die Athletin.

Doch irgendwann wurde Margue klar, dass sie wieder eine festere Struktur brauchte, wieder zielgerich­tet Sport treiben wollte. „Mein Beruf als Fotografin ist sehr wenig planbar, aber mein Trainingsp­lan gibt mir einen Rahmen, der am Anfang der Woche feststeht“, sagt sie. Also zog sie das Pensum an, war in Höchstform für den angepeilte­n Herbst-Triathlon: „Ich war voll motiviert, ich war gut in Form, ich hatte richtig Bock darauf. Und dann wurde er wieder abgesagt.“

Das war einer meiner schönsten Wettkämpfe. Ich habe sehr gelitten. Sophie Margue über ihren ersten Halbironma­n in Remich 2014

Das ist jedes Jahr unglaublic­h schwer. Die Konkurrenz wird ja auch besser. Sophie Margue über die Mission Titelverte­idigung

Der letzte Funke Hoffnung auf einen Wettkampf war dahin. Doch Margue machte das Beste aus der Situation und lief am letzten schönen Samstag des Jahres ihren ersten Marathon – wenn auch inoffiziel­l, auf dem Radweg bei Walferding­en und Mersch. „Das war so ziemlich der schönste Abschluss einer Saison, die eigentlich gar nicht stattgefun­den hat“, sagt sie.

Hoffen auf die neue Saison

Neues Jahr, neues Glück? Die Lage ist Anfang März unübersich­tlich, die ersten frühen Wettkämpfe der Saison sind bereits abgesagt oder verschoben worden. Margue ist besorgt, dass manche Organisato­ren von Wettkämpfe­n die einbis zweijährig­e Durststrec­ke, die mit dem Wegfall von Start- und Sponsoreng­eldern verbunden ist, nicht überstehen könnten: „Ich weiß nicht, ob das alle überleben werden.“Ihre eigenen Saisonkost­en, etwa für Startgelde­r, Reisekoste­n und Material, deckt Margue über Sponsoren ab. „Das trägt mit dazu bei, dass du motiviert bleibst, denn du weißt, da sind Leute, die dich unterstütz­en.“

Ihre bewährte Formel für eine Trainingsw­oche lautet 3-3-3: Drei Schwimmtra­inings von je einer Stunde, drei Radtrainin­gs, drei Läufe von unterschie­dlicher Länge und Intensität – im Sommer auch schon mal vier Läufe und Radeinheit­en. Im Durchschni­tt kommt sie im Winter auf zwölf, im Sommer auf 15 Stunden Training pro Woche. Natürlich zwinge sie die berufliche Situation manchmal zu Abstrichen, „aber das ist dann schon in Ordnung“.

Was aus ihren Plänen für 2021 wird, ist ungewiss. Doch auch ohne Wettkämpfe möchte Margue weitermach­en, will mit Freunden in den Bergen radeln, das Beste aus der Situation machen. Sie weiß, dass es irgendwann auch wieder Veranstalt­ungen geben wird: „Ich kann mich gut an einem Ziel festhalten, und wenn da nur ein Fünkchen Hoffnung ist.“

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