Der rote Judas
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Er schlug die Kladde zu, ging hin und nahm ab. „Ein Anruf für Sie, Herr Kriminalinspektor, irgendeine Arztpraxis.“Eine Frauenstimme aus der Fernsprechzentrale war in der Leitung. „Ich stelle durch.“
Es knackte und rauschte, Stainer merkte, dass er noch immer das Foto mit Jagodas Leiche in der Hand hielt. Endlich meldete sich eine Männerstimme. „Bin ich mit der Kriminalabteilung des Polizeiamtes verbunden?“Die Stimme sprach mit leicht slawischem Akzent.
„Richtig, Sie
Inspektor Stainer.“
„Mein Name ist Polanski. Ich bin Arzt und möchte Sie bitten, in meine Praxis zu kommen. Ich habe hier eine Patientin, die sich gerade von einem Nervenzusammenbruch erholt, und ich fürchte, sie hat Ihnen einiges zu erzählen.“ sprechen mit
28
Mona brachte eine Zeitung mit, als sie aus der Schule kam, das Leipziger Tageblatt. Heiland hatte sie am Morgen darum gebeten. „Danke. Du kriegst das Geld zurück, sobald ich meine Börse wiederhabe.“Er setzte sich an den Küchentisch, zündete sich eine Zigarette an und begann sofort, in der Zeitung zu blättern.
Seine Frau sei nach einem Streit zu ihren Eltern nach Markranstädt gefahren, hatte er seiner Tante und ihrer Familie erzählt. Er sei ihr und der Kleinen nachgereist, doch umsonst, Christel sei stur geblieben, und bei der Rückreise habe er vor lauter Kummer seine Jacke mit Schlüssel und Geld im Zug liegen lassen.
„Du rauchst Muttis Zigaretten?“Mona warf einen tadelnden Blick auf den vollen Aschenbecher und riss das Fenster auf. „Du weißt genau, dass sie das nicht mag.“
„Ich kauf ihr ’ne Schachtel, wenn ich meine Börse wiederhabe.“
Selbst mit Geld in der Tasche hätte Heiland sich nicht auf die Straße hinuntergetraut. Statt Holz zu machen und Kohlen aus dem Keller zu holen wie vereinbart, hatte er den ganzen Vormittag am Fenster gestanden: Zweimal waren Polizeistreifen unten auf der Salomonstraße vorbeigekommen, einmal zu Pferd, einmal zu Fuß. Und jedes Mal hatte Heiland seine Fingernägel zerkaut.
„Das ist die letzte“, sagte Mona streng, „die Jungens kommen bald von der Schule. Ich will nicht, dass sie sich die Raucherei bei dir abgucken. Schlimm genug, dass sie das Laster bei Vati mitbekommen haben.“
„Ist ja gut.“Heiland liebte seine Cousine, doch dass sie immer mehr nach ihrer strengen Mutter geriet, gefiel ihm gar nicht. Obwohl sie acht Jahre jünger war als er, kam er sich in ihrer Gegenwart manchmal wie ein kleiner Junge vor. Er blätterte den Stadtteil der Zeitung durch und suchte nach Polizeiberichten.
„Hast du Christel erreicht?“Mona band sich eine Schürze um und schürte das Feuer im Herd.
„Nein, die Warteschlange am Fernsprecher war so lang.“
„Du hättest doch warten können, Zeit hast du schließlich genug.“Sie legte zwei Briketts nach.
„Ich habe gefroren.“Am Johannisplatz stand seit neustem eines dieser modernen Fernsprechhäuschen. Seine Tante hatte ihm ein paar Groschen gegeben, damit er von dort aus seine Frau anrufen konnte. Doch Heiland hatte sich nicht auf den Platz hinuntergetraut. „Wie du weißt, habe ich keine Jacke.“
„Du hättest dir ja einen Mantel von Vati überziehen können. Und warum sehe ich kein Holz und keine neuen Kohlen?“Mona drehte sich nach ihm um und schaute ihn vorwurfsvoll an. „Du wolltest dich doch darum kümmern!“
Er seufzte. „Nach dem Essen ziehe ich mir einen Mantel von Onkel Sigurd über und gehe Holz machen und Kohlen holen.“Mona setzte den vorgekochten Wirsingeintopf auf die Herdplatte. „Ich werde dich dran erinnern.“Sie stellte sich vor den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Heiland blätterte die letzte Zeitungsseite auf, nirgendwo hatte er einen Bericht über eine Schießerei in Gohlis gefunden. Ist ja seltsam, dachte er und hob den Blick. Seine Cousine sah ihn herausfordernd an und langte nach dem Aschenbecher. „Ausmachen“, forderte sie.
„Himmel, du bist schlimmer als mein Feldwebel!“Wütend drückte er die Zigarette aus. Mona trug den Aschenbecher zum Herd und leerte die Kippen und abgebrochenen Filter ins Feuer.
„Guck nach dem Eintopf, damit nichts anbrennt.“Als wollte sie ihrer Forderung Nachdruck verleihen, knallte sie den Ascher auf den Spülstein. „Und mach die Tür auf, wenn die Jungen läuten.“Sie legte die Schürze ab, steckte die Zigarettenschachtel in ihr Kleid und nahm ihre Schultasche. „Ich gehe jetzt Schularbeiten machen. Ruft mich, wenn das Essen auf dem Tisch steht.“
„Ja, Herr Feldwebel.“
„Frau Feldwebel, wenn schon.“Die Schultasche vor die Brust gedrückt, blieb sie vor dem Küchentisch stehen und musterte ihn aufmerksam.
„Was guckst du?“Der Blick ihrer dunkelblauen Augen machte Heiland nervös. Die Augen, die scharf geschnittene Nase und das schmale Gesicht hatte sie vom Vater, die hochgewachsene und schlanke Statur auch. Der große Mund dagegen kam von der Mutter und der rotzige Zug um die Mundwinkel auch.
„Ist es verboten, seinen Cousin anzugucken?“Sie wurde immer hübscher, fand Heiland. Leider hatte sie ihr schönes, langes Haar bis knapp unter die Ohren abschneiden lassen. Rabenschwarz war es, wie das der Tante. Doch anders als sie trug Mona es nun seitlich gescheitelt und die längere Seite halb über die hohe Stirn gekämmt. „Ich frage mich, was mit dir los ist, Max.“
„Was soll mit mir los sein?“Ihr Blick und ihre Fragen ärgerten ihn. „Hast du deinen Vater nie nach einem Ehekrach erlebt?“
„Schon lange nicht mehr.“Ihr hübsches Gesicht wurde kantig und hart. Sie wandte sich ab und ging zum Wohnzimmer
„Seit sechs Jahren nicht mehr, um genau zu sein. Pass auf den Eintopf auf.“
Er sah ihr nach. Sie hatte eines dieser modernen Kittelkleider an, das die Schultern kaum bedeckte und die Kniekehlen gerade so.
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