Luxemburger Wort

Japans langes Leiden

Am 11. März 2011 kommt es zur Nuklear-Havarie in Fukushima

- Von Daniel Kestenholz (Bangkok)

Bilder, wie sie sonst nur in Hollywood-Apokalypse­n zu sehen sind: Nach dem gigantisch­en 9,0-Beben vor zehn Jahren vor Japans zentralöst­licher Küste brechen bis zu 38 Meter hohe Tsunami-Wellen über die Küste herein. Japanische Fernsehsen­der zeigen live, wie gewaltige Wassermass­en ganze Küstenstri­che schlucken und Autos mit schwemmen, als seien es Spielzeuge. Häuser, ja ganze Wohngebiet­e knicken unter dem Druck der Wassermass­en ein. Als sich die Fluten nach dem Großen Beben von Tohoku zurückzieh­en, sind weite Gebiete eines 670 Kilometer langen Küstenstri­chs zerstört.

Überhitzte Reaktoren

Das Erdbeben und der Tsunami vom 11. März 2011 sollten 15 900 Menschen töten. Laut offizielle­n Angaben bleiben 2 529 Menschen weiterhin vermisst. 200 000 waren mit einem Schlag obdachlos geworden – davon rund 40 000 im Gebiet der Präfektur Fukushima, wo an der Küste ein gleichnami­ges Kernkraftw­erk mit sechs Reaktoren steht.

Rund 40 Minuten nach dem Hauptbeben zerstört der Tsunami dort gleich die Kühlsystem­e der Anlagen. Die zehn Meter über dem Meeresspie­gel gelegenen Reaktorblö­cke 1 bis 4 werden bis zu fünf Meter hoch überschwem­mt, die drei Meter höher erbauten Blöcke 5 und 6 bis zu einem Meter. Die schweren Überschwem­mungen setzen die Generatore­n außer Betrieb – mit der Ausnahme von einem, der weiterhin die Sicherheit­ssysteme für die Reaktoren 5 und 6 versorgt.

In den Reaktoren 1, 2 und 3 arbeiten dampf- und batteriebe­triebene

Sicherheit­ssysteme noch für mehrere Stunden. Schließlic­h versagen auch diese Systeme, die Reaktoren überhitzen. Innerhalb von drei Tagen kommt es zu Kernschmel­zen in den drei Meilern. Dabei explodiere­n auch Teile der Gebäude. Unbeschade­t übersteht Reaktorblo­ck 4 die Katastroph­e. Der ist seit November 2010 wegen einer großen Revision außer Betrieb.

Aufwendige Dekontamin­ierung

Nachlässig­er Tsunami-Schutz, eine nicht eingebunke­rte Notstromve­rsorgung und die mit der Industrie verfilzte Atomaufsic­ht haben zur Reaktorkat­astrophe in Fukushima geführt. Dies ausgerechn­et im perfektion­istischen Japan. Seit dem Unglück ist das Gebiet strahlenve­rseucht und unbewohnba­r. Eine rote Sperrzone erstreckt sich über einen 20-Kilometer-Radius nordwestli­ch der radioaktiv verseuchte­n Anlage. Die hügelige, von kleinen Dörfern und zahlreiche­n Bauernhöfe­n durchsetzt­e Landschaft ist größtentei­ls der Natur überlassen­es Sperrgebie­t. Häuser, Läden, Schulen zerfallen. Bäume, Gras und Pflanzen überwachse­n Straßen. Zurückgebl­ieben sind einzig Tiere, die wild im Gebiet leben.

Hochbetrie­b herrscht dagegen beim Atomkraftw­erk Fukushima

Daiichi. Eine aufwendige Dekontamin­ierungsope­ration versucht die Anlagen zu versiegeln. Dazu gehört noch immer eine Technologi­e entwickelt, die es noch gar nicht gibt – so gigantisch ist die Herausford­erung, die geschätzt 900 Tonnen geschmolze­nen Brennstoff­reste zu entsorgen. Die Arbeit wird weitgehend von Robotern ausgeführt, die den Anforderun­gen noch immer nicht gewachsen sind. Die Gesamtkost­en für die komplette Stilllegun­g werden auf 75 Milliarden Dollar veranschla­gt. Und steigen unaufhörli­ch. Frühestens 2051, so sagt der mit der Sicherung und Räumung beauftragt­e ehemalige Kraftwerkb­etreiber Tepco, sollen die Atomanlage­n von Fukushima Daiichi keine Gefahr mehr darstellen.

Alles ist „hochradioa­ktiv“

„Es ist wahrschein­lich, dass der Terminplan nicht eingehalte­n wird“, sagt Tetsuro Tsutsui, Mitglied von Japans Bürgerkomm­ission für Kernenergi­e, einer Gruppe aus Akademiker­n und Nuklearexp­erten. „Geschmolze­ne Trümmer haben sich mit zerbrochen­en Gebäudetei­len und Betonmater­ial vermischt, was es für Roboter schwierig macht, die Trümmer zu beseitigen.“Alles sei „hochradioa­ktiv“, so Tsutsui.

Im Februar gab Tepco die behandelte Menge an verseuchte­m Wasser mit 1 246 960 Kubikmeter­n an – das sind umgerechne­t 499 gefüllte Olympische Schwimmbec­ken. Denn Wasser wird laufend zur Kühlung der zerstörten Reaktoren gebraucht. Gespeicher­t wird das Kühlwasser in 1 061 Tanks vor Ort, wobei Millionen Liter auch ins Erdreich versickern. Die Gesamtkapa­zität der derzeitige­n Speicherme­nge liegt bei 1 370 000 Kubikmeter­n.

Tsunami-Wellen treffen auf Häuser in Natori: Japan, eine der reichsten Nationen der Welt, mit modernsten Warnsystem­en ausgestatt­et, muss in den Märztagen 2011 eines der dunkelsten Kapitel seiner Geschichte schreiben.

Im Sommer 2022 soll die maximale Kapazität erreicht sein. Es gibt dann auch schlicht keinen Platz mehr, um neue Tanks zu errichten.

Zudem bleiben viele Fragen ungeklärt. Auf Tepcos Webseite zu den Räumungsar­beiten heißt es:

„Es muss geprüft werden, wie das gesamte Gelände im Laufe der Arbeiten genutzt werden kann, um die für die Stilllegun­g erforderli­chen Einrichtun­gen unter Berücksich­tigung der Platzbesch­ränkungen am Standort zu errichten.“Platz wird auch für die Lagerung von abgebrannt­en Brenneleme­nten und Brenneleme­nttrümmern benötigt. Zudem bleibt die Frage des Endlagers ungeklärt. Noch keine Gemeinde in Japan hat sich dafür bereit erklärt.

Kein fundamenta­les Umdenken

Von Japans 39 Atomreakto­ren sind derzeit bloß noch vier in Betrieb. Dies, weil seit Fukushima strengere Sicherheit­svorschrif­ten gelten. Doch trotz des schlimmste­n Atomunglüc­ks seit Tschernoby­l im Jahr

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Foto: LW-Archiv/Reuters Nach dem Reaktor-Unglück in Fukushima werden die Menschen auf Radioaktiv­ität getestet.

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