Flirt ohne Zukunft
1986: Zu einem fundamentalen Umdenken bezüglich Energieversorgung und -sicherheit hat Fukushima in Japan nicht geführt. Atomenergie wird eine der wichtigsten Energiequellen des Landes bleiben und noch 2030 rund ein Fünftel zur gesamten Stromerzeugung beisteuern. Und zumal Japan bis 2050 kohlenstoffneutral zu werden versucht, könnte dieses Ziel die emissionsfreie Kernenergie weiter vorantreiben.
Japan wird noch Jahrzehnte an der Katastrophe leiden. Dabei betonen Atomkraftwerk-Lobbyisten, dass das Unglück laut offiziellen Angaben kein einziges Menschenleben infolge radioaktiver Verstrahlung gefordert habe. Zwei Tepco-Arbeiter erlitten Verbrennungen. 670 Millisievert war die höchste Strahlendosis, der ein Arbeiter bei der Reaktion auf den Fukushima-Notfall ausgesetzt war. Jetzt liegen die Strahlungswerte in der Nähe von Fukushima Daiichi bei rund 20 Millisievert pro Jahr. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Strahlung in einem Flugzeug beträgt rund drei Millisievert pro Stunde. Eine Röntgenaufnahme der Brust verursacht eine Strahlung von rund 100 Millisievert.
Rückkehr in die Sperrzone
Menschen in Fukushima sterben nicht an den Folgen von Radioaktivität. Die meisten Todesfälle im Zusammenhang mit der Erdbebenund Tsunami-Katastrophe betreffen Personen mit chronischen Krankheiten, deren Gesundheitszustand sich durch die Veränderung
ihrer Lebensumgebung als Evakuierte verschlechtert hat.
Auch kehren Menschen wieder in ihre früheren Wohnorte in der Sperrzone zurück. Vor zwei Jahren wurde knapp die Hälfte der Gemeinde Okuma für bewohnbar erklärt, die gleich westlich von Fukushima Daiichi liegt. Die nukleare Strahlung im Ort beträgt jetzt rund 20 Millisievert – das entspricht dem Wert, dem Arbeiter in Kernkraftwerken ausgesetzt sind. Vor dem Unglück lag der Strahlungswert in Okuma bei etwa einem Millisievert, damals zählte der Ort rund 10 000 Einwohner. Inzwischen ist etwa jeder vierte Bewohner zurück. Auch Fisch, Gemüse, Früchte und Reis aus dem nahen Gebiet werden wieder auf Märkten verkauft.
Im Jahr 2021 prägen Menschen mit Maske das Alltagsgeschehen. Im Jahr 2011 prägten Menschen mit Maske den Ausnahmezustand. Im fernen Fukushima. Die Maske soll sie schützen – vor den lebensbedrohlichen Auswirkungen der Explosion eines Kernkraftwerks. Es ist am 11. März 2011, als erst ein Seebeben die Ostküste Japans mit Tausenden Todesopfern erschüttert. Die anschließende Havarie in den Atomanlagen von Fukushima Daiichi wird das Vertrauen in die Nutzung der Kernkraft zur Energiegewinnung nachhaltig erschüttern. Denn war dieses Vertrauen nach Tschernobyl im April 1986 intakt geblieben, indem das dortige Desaster mit technologischen Defiziten und embryonalen Sicherheitsstandards der Sowjets erklärt wurde, können diese Argument im HightechLand Japan mit seinen überdurchschnittlichen Sicherheitsmaßstäben im März 2011 nicht angeführt werden. Mit Fukushima setzt sich die Überzeugung durch, dass die Kernkraft eine Technologie von gestern ist. Allen voran in Deutschland, wo die Kanzlerin den Begriff der Energiewende im politischen Vokabular verankert.
Mittlerweile sind zehn Jahre vergangen und nicht wenige in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wagen es wieder, mit der Kernkraft zu flirten. Dass dem so ist, hat mit der KFrage zu tun, mit der sie konfrontiert sind: Kernkraft oder Klimawandel – was birgt größere Gefahren? Insbesondere die Industrieländer stehen vor dem Dilemma, einerseits den nach wie vor immensen Hunger ihrer Bürger und Betriebe nach Energie zu stillen und andererseits die klimaschädlichen CO2-Emissionen, und mit ihr die Erderwärmung, zu bändigen. Da liegt die Versuchung nahe, der vermeintlich klimafreundlichen Kernkraft eine – zweite – Chance zu geben. Umso mehr, als nach Fukushima viel wertvolle Zeit verstrichen ist, um die Energiewende hin zu Effizienz und Erneuerbaren zu vollziehen. Erst im Dezember 2015 verständigte sich die Weltgemeinschaft darauf, die Erderwärmung auf mindestens 1,5 Grad Celsius zu drosseln und erst seit 2020 haben die EU-Staaten konkrete Klima- und Energiepläne.
Diese zweite Chance hat allerdings angesichts von Alter und Altersbeschwerden vieler Anlagen Tschernobyl-hafte Züge: Zwei Drittel aller Reaktoren sind älter als 30 Jahre und wegen ihrer Anfälligkeit können durchschnittlich nur noch zwei Drittel der Leistung abgerufen werden.
Diese Diagnose muss insbesondere in Luxemburg tiefe Sorgenfalten in die Stirn treiben, hat Frankreich doch Ende Februar beschlossen, die Laufzeit seiner betagten Reaktoren, darunter das beängstigend nahe Cattenom, auf 50 Jahre zu verlängern. Aus wirtschaftlicher Warte mag die Entscheidung der „Grande Nation“alternativlos sein: Frankreich stillt seinen Energiehunger zu 70 Prozent aus Kernkraft. Aus Sicht des kleinen Nachbarn und dessen Recht auf Sicherheit, Gesundheits- und Umweltschutz ist es eine Provokation. Denn gut-nachbarschaftliche Beziehungen definieren sich nicht nur durch einen möglichst fairen Steuerwettbewerb – Stichwort OpenLux –; sie definieren sich auch dadurch, dass man die Existenz des anderen nicht durch eine latente Bedrohung gefährdet.
Ein Dilemma, zwischen den Risiken von Klimawandel und Kernkraft abzuwägen.
Kontakt: marc.schlammes@wort.lu