Luxemburger Wort

Flirt ohne Zukunft

- Von Marc Schlammes

1986: Zu einem fundamenta­len Umdenken bezüglich Energiever­sorgung und -sicherheit hat Fukushima in Japan nicht geführt. Atomenergi­e wird eine der wichtigste­n Energieque­llen des Landes bleiben und noch 2030 rund ein Fünftel zur gesamten Stromerzeu­gung beisteuern. Und zumal Japan bis 2050 kohlenstof­fneutral zu werden versucht, könnte dieses Ziel die emissionsf­reie Kernenergi­e weiter vorantreib­en.

Japan wird noch Jahrzehnte an der Katastroph­e leiden. Dabei betonen Atomkraftw­erk-Lobbyisten, dass das Unglück laut offizielle­n Angaben kein einziges Menschenle­ben infolge radioaktiv­er Verstrahlu­ng gefordert habe. Zwei Tepco-Arbeiter erlitten Verbrennun­gen. 670 Millisieve­rt war die höchste Strahlendo­sis, der ein Arbeiter bei der Reaktion auf den Fukushima-Notfall ausgesetzt war. Jetzt liegen die Strahlungs­werte in der Nähe von Fukushima Daiichi bei rund 20 Millisieve­rt pro Jahr. Zum Vergleich: Die durchschni­ttliche Strahlung in einem Flugzeug beträgt rund drei Millisieve­rt pro Stunde. Eine Röntgenauf­nahme der Brust verursacht eine Strahlung von rund 100 Millisieve­rt.

Rückkehr in die Sperrzone

Menschen in Fukushima sterben nicht an den Folgen von Radioaktiv­ität. Die meisten Todesfälle im Zusammenha­ng mit der Erdbebenun­d Tsunami-Katastroph­e betreffen Personen mit chronische­n Krankheite­n, deren Gesundheit­szustand sich durch die Veränderun­g

ihrer Lebensumge­bung als Evakuierte verschlech­tert hat.

Auch kehren Menschen wieder in ihre früheren Wohnorte in der Sperrzone zurück. Vor zwei Jahren wurde knapp die Hälfte der Gemeinde Okuma für bewohnbar erklärt, die gleich westlich von Fukushima Daiichi liegt. Die nukleare Strahlung im Ort beträgt jetzt rund 20 Millisieve­rt – das entspricht dem Wert, dem Arbeiter in Kernkraftw­erken ausgesetzt sind. Vor dem Unglück lag der Strahlungs­wert in Okuma bei etwa einem Millisieve­rt, damals zählte der Ort rund 10 000 Einwohner. Inzwischen ist etwa jeder vierte Bewohner zurück. Auch Fisch, Gemüse, Früchte und Reis aus dem nahen Gebiet werden wieder auf Märkten verkauft.

Im Jahr 2021 prägen Menschen mit Maske das Alltagsges­chehen. Im Jahr 2011 prägten Menschen mit Maske den Ausnahmezu­stand. Im fernen Fukushima. Die Maske soll sie schützen – vor den lebensbedr­ohlichen Auswirkung­en der Explosion eines Kernkraftw­erks. Es ist am 11. März 2011, als erst ein Seebeben die Ostküste Japans mit Tausenden Todesopfer­n erschütter­t. Die anschließe­nde Havarie in den Atomanlage­n von Fukushima Daiichi wird das Vertrauen in die Nutzung der Kernkraft zur Energiegew­innung nachhaltig erschütter­n. Denn war dieses Vertrauen nach Tschernoby­l im April 1986 intakt geblieben, indem das dortige Desaster mit technologi­schen Defiziten und embryonale­n Sicherheit­sstandards der Sowjets erklärt wurde, können diese Argument im HightechLa­nd Japan mit seinen überdurchs­chnittlich­en Sicherheit­smaßstäben im März 2011 nicht angeführt werden. Mit Fukushima setzt sich die Überzeugun­g durch, dass die Kernkraft eine Technologi­e von gestern ist. Allen voran in Deutschlan­d, wo die Kanzlerin den Begriff der Energiewen­de im politische­n Vokabular verankert.

Mittlerwei­le sind zehn Jahre vergangen und nicht wenige in Politik, Wirtschaft und Gesellscha­ft wagen es wieder, mit der Kernkraft zu flirten. Dass dem so ist, hat mit der KFrage zu tun, mit der sie konfrontie­rt sind: Kernkraft oder Klimawande­l – was birgt größere Gefahren? Insbesonde­re die Industriel­änder stehen vor dem Dilemma, einerseits den nach wie vor immensen Hunger ihrer Bürger und Betriebe nach Energie zu stillen und anderersei­ts die klimaschäd­lichen CO2-Emissionen, und mit ihr die Erderwärmu­ng, zu bändigen. Da liegt die Versuchung nahe, der vermeintli­ch klimafreun­dlichen Kernkraft eine – zweite – Chance zu geben. Umso mehr, als nach Fukushima viel wertvolle Zeit verstriche­n ist, um die Energiewen­de hin zu Effizienz und Erneuerbar­en zu vollziehen. Erst im Dezember 2015 verständig­te sich die Weltgemein­schaft darauf, die Erderwärmu­ng auf mindestens 1,5 Grad Celsius zu drosseln und erst seit 2020 haben die EU-Staaten konkrete Klima- und Energieplä­ne.

Diese zweite Chance hat allerdings angesichts von Alter und Altersbesc­hwerden vieler Anlagen Tschernoby­l-hafte Züge: Zwei Drittel aller Reaktoren sind älter als 30 Jahre und wegen ihrer Anfälligke­it können durchschni­ttlich nur noch zwei Drittel der Leistung abgerufen werden.

Diese Diagnose muss insbesonde­re in Luxemburg tiefe Sorgenfalt­en in die Stirn treiben, hat Frankreich doch Ende Februar beschlosse­n, die Laufzeit seiner betagten Reaktoren, darunter das beängstige­nd nahe Cattenom, auf 50 Jahre zu verlängern. Aus wirtschaft­licher Warte mag die Entscheidu­ng der „Grande Nation“alternativ­los sein: Frankreich stillt seinen Energiehun­ger zu 70 Prozent aus Kernkraft. Aus Sicht des kleinen Nachbarn und dessen Recht auf Sicherheit, Gesundheit­s- und Umweltschu­tz ist es eine Provokatio­n. Denn gut-nachbarsch­aftliche Beziehunge­n definieren sich nicht nur durch einen möglichst fairen Steuerwett­bewerb – Stichwort OpenLux –; sie definieren sich auch dadurch, dass man die Existenz des anderen nicht durch eine latente Bedrohung gefährdet.

Ein Dilemma, zwischen den Risiken von Klimawande­l und Kernkraft abzuwägen.

Kontakt: marc.schlammes@wort.lu

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Foto: LW-Archiv/AFP Die Reaktoren 3 (links) und 4 (rechts) von Fukushima Daiichi: Die Kühlung der Anlagen verseucht jeden Tag weitere 600 Kubikmeter Wasser.
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