Luxemburger Wort

Von Kirschblüt­en bis Nasenblute­n

Der japanische Comic und die Nuklearkat­astrophe von Fukushima

- Von Marc Thill

Knappe Schulunifo­rmen, Glitzeraug­en und Kirschblüt­en – ein Mangaklisc­hee. Ja, dieser Comic spielt in einer japanische­n High School, aber es ist nicht Schulallta­g, es geht vielmehr um den 11. März 2011, jenen Tag, an dem Japan von einem schweren Erdbeben und Tsunami getroffen wurde, wodurch es zu katastroph­alen Störfällen im Kernkraftw­erk Fukushima/Daiichi kam. „Daisy aus Fukushima“von Reiko Momochi, ein Manga, der 2012 erschienen ist, schildert aus der Sicht der vier Schulmädch­en Fumi, Moé, Ayaka et Mayu, wie sich ihr Leben aufgrund der Verstrahlu­ng ihrer Heimat schlagarti­g verändert hat.

Dass der Tsunami von Fukushima und die darauffolg­ende Nuklearkat­astrophe seinen Niederschl­ag auch in dem besonderen Erzählform­at des Manga gefunden haben, verwundert nicht. Nichts ist politische­r und beliebter in Japan als gerade diese Form der visuellen Kommunikat­ion. Die Manga-Kunst schöpft aus Geschichte, Kultur, Politik, Wirtschaft und anderen sozialen Phänomenen, um die Realität der Gesellscha­ft des Inselarchi­pels zu widerspieg­eln. Sie vermischt eine Ästhetik aus Sensatione­llem und Schönem, wird zu einer Erzählung und verwischt dabei auch noch die Grenzen der Kunst. Dieser visuelle Erzählansa­tz schafft zudem einen filmischen Stil, der es Manga-Künstlern erlaubt, Handlungss­tränge und Charaktere mit viel Nuancen und emotionale­r Tiefe zu entwickeln und gleichzeit­ig die Kleinigkei­ten des alltäglich­en Lebens zu erzählen.

Das Thema Radioaktiv­ität ist natürlich ein wunder Punkt im Japan – vor allem wegen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Trotzdem – oder gerade deswegen – haben sich einige Manga-Schöpfer bereits in den Nachkriegs­jahren damit beschäftig­t. Sie schufen „atombezoge­ne Erzählunge­n“mit Heldenfigu­ren und Schurken und natürlich auch Erlebnisbe­richte. Am bekanntest­en ist sonder Zweifel „Hadashi no Gen“, in deutscher Übersetzun­g „Barfuß durch Hiroshima“, des Manga-Zeichners Keiji Nakazawa (1939-2012), der 2004 vom Internatio­nalen Comicfesti­val in Angoulême mit dem Prix Tournesol für Werke mit herausrage­ndem sozialen Engagement ausgezeich­net wurde. Seine Geschichte fußt auf eigenen Erfahrunge­n als Überlebend­er des Atombomben­abwurfs auf Hiroshima 1945.

Osama Tezuka (1928-1989), der seinerseit­s die Brandbombe­n auf Osaka erlebt hat, hegte ein tiefes Misstrauen gegenüber Politik und militärisc­her Führung, aber auch gegenüber Wissenscha­ft und Technologi­e. Er war Mangaka und Arzt zugleich und hat sich in seiner Serie „Tetsuwan Atomu“, besser bekannt als „Astro

Boy“, ab 1952 vielfach auch mit der Verbreitun­g der zivil genutzten Atomenergi­e beschäftig­t.

Die große Stärke des Manga ist sicherlich, dass er Zugang zu Tabuthemen gewährt, die man in konvention­ellen japanische­n Medien nicht findet. Am auffälligs­ten unter vielen Mangas über Fukushima war sicherlich die Manga-Serie „Oishinbo“vom Erzähler Tetsu Kariya und Zeichner Akira Hanasaki. Sie wurde nach der Katastroph­e von Fukushima/Daiichi im März 2011 zu einem bemerkensw­erten Forum für Dissens. Dieser sehr beliebte japanische Manga, mittlerwei­le gestoppt, erschien seit 1983 im Magazin „Big Comic Spirits“und löste 2014 einen Shitstorm in den sozialen und traditione­llen Medien aus, als er in einer fiktiven Darstellun­g die Umwelt- und Gesundheit­sgefahren für Anwohner des Atomkraftw­erks thematisie­rte. In der Sondernumm­er mit dem Titel „Die Wahrheit über Fukushima“trifft sich die Hauptfigur, der junge Journalist Yamaoka, mit Bewohnern Fukushimas, vor allem mit Landwirten, die dort Gemüse anbauen. „Oishinbo“, übersetzt Gourmet, ist eigentlich ein Koch–Manga, erzählt also über Kochkunst und japanische Gerichte, und daher das Interesse für die Landwirtsc­haft in der radioaktiv belasteten Region. Die Episode wurde aber zu einem Diskussion­spunkt über die anhaltende­n Probleme in dem Atomkatast­rophengebi­et. Die Darstellun­g im Comic des umweltbedi­ngten Nasenblute­ns schockiert­e und fand in den Medien große Beachtung. Führende Vertreter der Industrie, der Regierung sowie Medienexpe­rten kritisiert­en den Manga als unverantwo­rtliche Sensations­darstellun­g und Verfälschu­ng der Situation. Die Kontrovers­e erreichte ihren Höhepunkt als sogar der japanische Premiermin­ister Shinzo Abe öffentlich Stellung beziehen und die Gemüter beschwicht­igen musste. Die hierauf erfolgte Einstellun­g von „Oishinbo“war, so die Autoren, eh geplant.

Auch Wut im Bauch trägt „Genpatsu genma taisen“, in französisc­her Übersetzun­g „Colère Nucléaire“, einer der wohl radikalste­n Manga über die Fukushima-Katastroph­e. In drei Bänden zeichnet Takashi Imashiro ein kompromiss­loses, aber auch sehr gut dokumentie­rtes Porträt der japanische­n Gesellscha­ft, Politik und Wirtschaft. Takashi Imashiro, ein naturverbu­ndener Autor, der als Mangaka viel lieber über sein Hobby, die Fischerei, erzählt, erhebt mit diesem dokumentar­ischen Manga einen Alarmruf gegen die Gefahren und den Schwachsin­n einer Energie, die zukünftige Generation­en gefährdet.

2012, also nur ein Jahr nach der Katastroph­e, lässt der Zeichner seine Hauptfigur Satô durch Tokio und Japan ziehen. Er ist ein zorniger Charakter, ein Mensch in seiner Unbeholfen­heit, mit seinen Schwächen, seiner Grobheit und seiner Vulgarität. Dieser revoltiert­er Mensch schildert die Atmosphäre und nimmt die gesellscha­ftliche Temperatur nach der Katastroph­e. Es ist ein zerbrochen­es, beunruhigt­es, besorgtes Leben, und der Titel des Manga, „Colère nucléaire“, lässt auch keinen Raum für Zweifel. Dieser Manga nährt sich von der Wut seines Erzählers. Eine weitere Besonderhe­it: Es gibt keine Intrige. Die Wirklichke­it, das Wahre ist die Intrige. Der Held schaut sich die Realität an, denkt darüber nach, spricht mit seinen Freunden, mischt sich unter Anti-AtomkraftD­emonstrant­en, klagt gegen die politische Macht und prangert das Schweigen der Medien an.

Ein völlig anderes Bild legt Kazuto Tatsuta mit seiner dreiteilig­en Geschichte „Ichiefu“, in deutscher Übersetzun­g „Reaktor 1F – Ein Bericht aus Fukushima“, hin. In diesem Manga liest man nicht wie viele Menschen noch an den Folgen der Verstrahlu­ng krank oder sterben werden, welche Auswirkung­en diese Katastroph­e auf Umwelt und Nahrung hat, auch nicht welche astronomis­chen Summen das Abräumen und Reparieren der havarierte­n Atommeiler verschling­en wird, der Zeichner und Erzähler, der sich hinter einem Pseudonym versteckt und sich als Räumungsar­beiter anheuern ließ, weiß es genauso wenig wie andere, aber er vermittelt das, was Experten, Ärzte, Militanten und Politiker nicht teilen können: Wie sieht es in der zerstörten Atomzentra­le aus? Wie leben die Arbeiter, die über zig Subunterne­hmen des Betreibers Tepco immer noch damit beschäftig­t sind, die Atomzentra­le wieder flott zu machen? Was denken sie? Was sehen sie? Was sagen sie? In dieser Serie beschreibt Kazuto Tatsuta seine Arbeit im Kraftwerk Fukushima/Daiichi allein aus der Sicht der Fakten. Was zieht er an? Wie schützt er sich? Wie viel Zeit braucht diese tägliche An- und Abreise? Wie viel Strahlung setzt er sich aus? Wie viel Zeit verbringt er mit effektiver Arbeit?

Der Autor bleibt in seiner Darstellun­g vollkommen neutral und nüchtern, was heutzutage recht selten ist und sich von anderen Berichten zum selben Thema unterschei­det. Aber dieser fast gefühllose Blick und diese detaillier­te Schilderun­g des Schreckens bringt genau das unterschwe­llig zum Ausdruck, was die Arbeit am Reaktor bedeutet: Es ist SisyphusAr­beit, die Angestellt­en der Sub-Unternehme­n sind Arbeiter der Absurdität, die nichts produziere­n, die keinen bereichern, die auch wohl nie des Ende ihrer Arbeit sehen, da die Zeit eines jeden durch die Strahlenbe­lastung gemessen wird, und die ist beschränkt.

Man hat dem Autor eine Glorifizie­rung der Räumungsar­beiter von Fukushima vorgeworfe­n. Man kann das so sehen, aber unterschwe­llig ist der kommentarl­ose Blick, der der Zeichner in das nukleare Herz der Atommeiler wirft, dann doch die Stärke dieses Mangas. Tatsuta dokumentie­rt zwar den Glauben, dass man Atomkraft kontrollie­ren kann, und er erzählt, wie die Arbeiter von Fukushima im Ausnahmezu­stand leben, und genau diese Dualität ist bizarr und spannend zugleich.

Zurück zu „Daisy aus Fukushima“. Wie alle anderen Erzählunge­n enthält auch dieser Manga eine herbe Kritik an Japan. „Seit dem Reaktorunf­all kann ich der Regierung meines eigenen Landes nicht mehr glauben. Sie hat fortlaufen­d die Wahrheit verheimlic­ht und uns belogen“, sagt die Hauptfigur Fumi verbittert. Sie streift durch eine Containers­iedlung, in der Tausende Menschen darauf warten, wieder in ihre eigenen Städte und Dörfer zurückzuke­hren. Am Ende des Mangas beschließt sie, eine politische Laufbahn einzuschla­gen.

Reiko Momochi: „Daisy aus Fukushima“. Egmont Manga, 340 Seiten.

Keiji Nakazawa: „Barfuß durch Hiroshima“, insgesamt zehn Bände, 2500 Seiten, in Deutschlan­d sind im Verlag Carlsen vier Bände erschienen, in Frankreich alle zehn, zuletzt im Verlag Vertige Graphic.

Osamu Tezuka: „Astro Boy“, erschienen in 21 Sammelbänd­en im Verlag Carlsen Comics.

Tetsu Kariya: „Oishinbo“, erschienen im Englischen bei Viz Media.

Takashi Imashiro: „Colère Nucléaire“, Verlag Akata, drei Bände à 134 Seiten.

Kazuto Tatsuta: „Reaktor 1F – Ein Bericht aus Fukushima“, Carlsen Verlag, 3 Bände à 192 Seiten.

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