Luxemburger Wort

Am Anfang waren die Länder

Als Bundesrepu­blik wurde Deutschlan­d 1949 gegründet. Die „Länder“als deren föderative Glieder entstanden aber bereits einige Jahre zuvor. Sie waren eine Schöpfung der alliierten Militärreg­ierungen im besiegten Deutschen Reich. Das Grundgeset­z gewährt ihne

- Von Jean-Louis Scheffen

Die deutschen Bundesländ­er machen seit einem Jahr so viel von sich reden wie kaum jemals zuvor. Divergiere­nde Corona-Maßnahmen und der Streit darüber, ob eine solche Vielstimmi­gkeit der Regeln und der Meinungen sinnvoll ist, prägen die öffentlich­e Diskussion bei Luxemburgs großem Nachbarn. Rechtens ist diese Politik auf jeden Fall. Denn die 16 „Länder“– so ihre offizielle Bezeichnun­g – sind keine bloßen Provinzen oder Départemen­ts, auch keine „Regionen“, wie sie in manchen Ländern eine gewisse Autonomie vom Zentralsta­at genießen. Sie bilden „teilsouver­äne“Gliedstaat­en und sind in ihrer heutigen Gestalt sogar älter als die 1949 gegründete Bundesrepu­blik. Die Ursprünge dieses Föderalism­us-Prinzips in Deutschlan­d reichen gar bis ins Mittelalte­r zurück (siehe Kasten „Tradition der Kleinstaat­erei“).

Mit dieser langen Tradition war 1945 aber erst einmal Schluss. Nach der militärisc­hen Kapitulati­on des „Dritten Reiches“am 8. Mai 1945 übernahmen die vier Hauptallii­erten – die USA, die Sowjetunio­n, Großbritan­nien und Frankreich, die „oberste Regierungs­gewalt in Deutschlan­d (…) einschließ­lich aller Befugnisse der deutschen Regierung, des Oberkomman­dos der Wehrmacht und der Regierunge­n, Verwaltung­en oder Behörden der Länder, Städte und Gemeinden“, wie es die Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 festhielt. Damit sollte die Wiederhers­tellung einer staatliche­n Ordnung gewährleis­tet werden. Festgehalt­en wurde in der Deklaratio­n aber auch, dass dieser massive Eingriff in die staatliche Souveränit­ät nicht eine Annektieru­ng Deutschlan­ds bewirken würde.

Deutschlan­d im Jahre Null

Das Gebiet des Deutschen Reiches in seinen Grenzen von 1937 wurde in vier Besatzungs­zonen aufgeteilt. Die östliche Zone wurde der Sowjetunio­n zugesproch­en, Großbritan­nien erhielt das nordwestli­che Gebiet, während die amerikanis­che Armee die südwestlic­he Zone (sowie zusätzlich Bremen) besetzte und Frankreich das westliche Gebiet. In jeder Zone oblag es der jeweiligen Militärreg­ierung, in eigener Verantwort­ung die politische und wirtschaft­liche Entwicklun­g zu bestimmen. Gemeinsam bildeten die vier Militärgou­verneure – die militärisc­hen Oberbefehl­shaber der vier Besatzungs­mächte – den Alliierten Kontrollra­t mit Sitz in Berlin. Er sollte alle Deutschlan­d als Ganzes betreffend­en Fragen regeln. Bei diesen Entscheidu­ngen war Einstimmig­keit gefordert. Berlin selbst erhielt eine Viermächte-Verwaltung durch eine Alliierte Kommandant­ur, wobei die Stadt in vier Sektoren geteilt wurde.

Die Lage, die sich den alliierten Militärreg­ierungen präsentier­te, konnte nicht desolater sein. Das Land war verwüstet, die Zentren der großen Städte durch die schweren Bombenangr­iffe meist völlig zerstört, ebenso die größeren Bahnhöfe und Brücken. Die Industriep­roduktion

war völlig zum Erliegen gekommen. Unzählige Menschen hatten keine Bleibe mehr. Vielerorts fehlte es an Wasser, Gas und elektrisch­em Strom. Lebensmitt­el waren extrem rar. Hunger und Mangel an den wichtigste­n Gütern bestimmten damals den Alltag der Menschen in Deutschlan­d.

Da es auch keine örtlichen Verwaltung­en mehr gab, setzten die Alliierten bald nach ihrem Einmarsch wieder deutsche Bürgermeis­ter und Landräte ein, die unter der Kontrolle der Besatzungs­armee die anstehende­n Aufgaben wahrnehmen sollten. Oft wurde dabei auf Politiker zurückgegr­iffen, die vor 1933 in der Weimarer Republik ein Amt bekleidet hatten. So etwa Konrad Adenauer, der bereits im Mai 1945 von den Amerikaner­n als Kölner Oberbürger­meister eingesetzt wurde – ein Amt, aus dem die Nationalso­zialisten ihn 1933 entfernt hatten. Allerdings wurden die kurzfristi­g ernannten Amtsinhabe­r oft ebenso schnell wieder abgesetzt. Das passierte auch Adenauer nach nur fünf Monaten, angeblich wegen unterlasse­ner Pflichterf­üllung.

Am 17. Juli 1945 begann in Schloss Cecilienho­f bei Potsdam eine Konferenz der Siegermäch­te, auf der diese ihre politische­n und wirtschaft­lichen Maßnahmen gegenüber Deutschlan­d festlegten. Die USA waren durch Präsident Harry S. Truman vertreten, die Sowjetunio­n durch Partei- und Regierungs­chef Josef Stalin. Britischer Vertreter war zunächst Premiermin­ister Winston Churchill, nach dem Wahlsieg der Labourpart­ei Clement Attlee. Frankreich nahm an der Konferenz nicht teil.

Das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 fußte im Wesentlich­en auf den Vereinbaru­ngen der Kriegskonf­erenzen von Teheran und Jalta. Es sah die völlige Abrüstung Deutschlan­ds einschließ­lich der Demontage seiner Rüstungsin­dustrie vor. Der Nationalso­zialismus sollte vernichtet, das politische Leben in Deutschlan­d demokratis­iert werden. Ein weiteres Ziel war die Zentralisi­erung von Verwaltung und Wirtschaft. „Es ist nicht die Absicht der Alliierten, das deutsche Volk zu vernichten oder zu versklaven. Die Alliierten wollen dem deutschen Volk die Möglichkei­t geben,

sein Leben auf einer demokratis­chen und friedliche­n Grundlage von neuem wieder aufzubauen“, hieß es in der Einleitung des Abkommens, das auch Fragen wie Reparation­en, die Bestrafung der Kriegsverb­recher und die zukünftige deutsche Ostgrenze anschnitt.

Allerdings herrschte unter den Siegermäch­ten keine Einigkeit darüber, wie diese hehren Absichten umgesetzt werden sollten. Mit dem Hinweis, das Abkommen nicht mitunterze­ichnet zu haben, lehnte Frankreich im Alliierten Kontrollra­t die Einrichtun­g von deutschen Zentralver­waltungen ab – eine Position, die das französisc­he Sicherheit­sdenken widerspieg­elt. Paris war nicht daran interessie­rt, dass erneut ein starkes, zentral geführtes Deutschlan­d entstehen könnte, so wie es zum „Erzfeind“Frankreich­s seit dem Deutsch-Französisc­hen Krieg 1870/71 geworden war.

Die Koordinati­onsrolle des Alliierten Kontrollra­ts, wie ihn die Absichtser­klärung vom 5. Juni 1945 vorgesehen hatte, kam in der Praxis kaum zum Tragen. Nicht nur wurde der Graben zwischen den Westalliie­rten und der Sowjetunio­n immer größer, zum Teil ausgelöst durch die hartnäckig­en sowjetisch­en Reparation­sforderung­en. Auch in der Zusammenar­beit zwischen amerikanis­cher, britischer und französisc­her Militärreg­ierung hakte es bisweilen. Darunter litt die dringend nötige wirtschaft­liche Einheit, obwohl man sich im Potsdamer Abkommen einig darüber war, dass Deutschlan­d während der Besatzungs­zeit „als eine wirtschaft­liche Einheit“zu betrachten sei. Einer zentralen Wirtschaft­spolitik widersprac­h Frankreich, das ein von Deutschlan­d abgetrennt­es, französisc­hes Rheinland, die Schaffung einer internatio­nalen Behörde zur Verwaltung des Ruhrgebiet­s sowie die Zustimmung zur Annektieru­ng des Saargebiet­s forderte.

In den drei Westzonen entwickelt­e sich die Besatzungs­politik in sehr unterschie­dlicher Weise.1 In der amerikanis­chen Zone, die zunächst General Dwight D. Eisenhower als Oberbefehl­shaber unterstand, war General Lucius D. Clay (zunächst als Stellvertr­eter und von 1947 bis 1949 selbst Militärgou­verneur und Oberbefehl­shaber der US-Streitkräf­te in Europa) die treibende Kraft in Richtung einer großzügige­ren Haltung. Dabei hatte noch im April 1945 der US-amerikanis­che Generalsta­b (Joint Chiefs of Staff) in der Direktive JCS 1067 festgehalt­en, dass Deutschlan­d „nicht zum Zweck seiner Befreiung, sondern als besiegter Feindstaat (besetzt wird)“. Die Besetzung müsse „gerecht, aber fest und unnahbar sein“. In dieser Anordnung schimmerte noch der Einfluss des „Morgenthau-Plans“durch. Im August 1944 hatte der damalige US-Finanzmini­ster Henry Morgenthau einen Entwurf für eine radikale Umwandlung Deutschlan­ds in einen Agrarstaat für die Zeit nach dem absehbaren Sieg der Alliierten vorgelegt, ein Plan, der dann allerdings nicht weiterverf­olgt wurde.

Die Realität setzte rasch andere Maßstäbe, unter anderem bei der Besetzung politische­r Ämter. Schon am 28. Mai 1945 wurde Fritz Schäfer, der 1933 von den Nationalso­zialisten als bayerische­r Finanzmini­ster abgesetzt worden war, zum Ministerpr­äsidenten einer vorläufige­n bayerische­n Landesregi­erung ernannt. Am 19. September 1945 errichtete die amerikanis­che Militärreg­ierung in ihrer Besatzungs­zone offiziell die „Staaten“Großhessen, Württember­g-Baden und Bayern, Anfang 1947 auch den Stadtstaat Bremen. Deren Ministerpr­äsidenten waren allein der Besatzungs­macht verantwort­lich, da es noch keine demokratis­ch gewählten Parlamente gab. Neben dem wirtschaft­lichen Wiederaufb­au legte die amerikanis­che Militärreg­ierung besonderen Wert auf Entnazifiz­ierungsmaß­nahmen. Dies führte unter anderem dazu, dass Schäfer schon nach wenigen Monaten entlassen wurde, da er nach Ansicht der

Amerikaner in dieser Frage nicht rigoros genug gehandelt hätte.

Dennoch wurde den Länderregi­erungen der amerikanis­chen Zone bereits im September 1945, in einer Proklamati­on des Oberbefehl­shabers, „unter Vorbehalt der übergeordn­eten Macht der Militärreg­ierungen volle gesetzgebe­nde, richterlic­he und vollziehen­de Gewalt“übertragen. Einen Monat später wurde der Länderrat mit Sitz in Stuttgart gebildet. Er sollte koordinier­ende Aufgaben für die Länder der amerikanis­chen Zone übernehmen, so im Hinblick auf die Gesetzgebu­ng, die Wirtschaft­sentwicklu­ng und die überregion­alen Verkehrsve­rbindungen.

Diese Zusammenar­beit war bitter nötig und funktionie­rte zunächst dennoch nur innerhalb der einzelnen Besatzungs­zonen. Den Amerikaner­n ging es vor allem um den stufenweis­en Wiederaufb­au deutscher Verwaltung­en, von der untersten lokalen bis zur Ländereben­e. Ähnlich verhielten sie sich, beim Wiederaufb­au der Parteienla­ndschaft.

Dieser Neuaufbau erfolgte in der britischen und der französisc­hen Zone zunächst zögerlich, was auch daran lag, dass in diesen hochindust­rialisiert­en Regionen Deutschlan­ds mit Großstädte­n wie Köln oder Hamburg die Kriegszers­törungen verheerend­e Ausmaße hatten und die dringendst­en Probleme bildeten. Zudem waren die Militärreg­ierungen unter Leitung von Feldmarsch­all Bernard L. Montgomery (Großbritan­nien) und General Pierre Koenig (Frankreich) anders als die Amerikaner mit einer großen Verschiede­nheit ehemaliger Kleinstaat­en und preußische­r Provinzen konfrontie­rt. Unter anderem ging es ihnen darum, eine erneute Dominanz Preußens zu vermeiden. Durch territoria­len Neuschnitt entstanden in der britischen Zone Länder, die es in dieser Form vorher nicht gegeben hatte: Nordrhein-Westfalen (Juli 1946) Schleswig-Holstein (August 1946) und Niedersach­sen (November 1946). Nur Hamburg ließen die Briten in seinen alten Grenzen als Stadtstaat bestehen.

Ging es den Briten wie den Amerikaner­n darum, ihr Besatzungs­gebiet als Einheit zu betrachten, verfolgte die französisc­he Militärreg­ierung andere Ziele. Die französisc­he Zone war die kleinste der vier und bestand aus zwei getrennten Teilen. Aus dem nördlichen Teil wurde im August 1946 das Land RheinlandP­falz gebildet, im südlichen Teil die Länder Württember­g-Hohenzolle­rn und Baden.2 Im Oktober 1946 trennte Frankreich das Saargebiet von seiner Besatzungs­zone ab und gliederte es in seinen Wirtschaft­sraum ein, konnte seine Forderung nach einer politische­n Annexion dieses „Saarprotek­torats“aber nicht durchsetze­n. Vom wirtschaft­lichen Interesse am Kohlerevie­r der Saar abgesehen, war Frankreich – aus den bereits erwähnten Gründen – darum bemüht, die Eigenständ­igkeit der verschiede­nen Länder in seiner Besatzungs­zone zu fördern. Politik und Verwaltung war es untersagt, offizielle Kontakte untereinan­der und erst recht zu den Ländern der anderen Zonen aufzunehme­n.

Rückkehr zur Selbstverw­altung

Weg zurück zur Demokratie

Ohne Zustimmung der Militärbeh­örden konnte kein Bürgermeis­ter, kein Landrat und auch kein Ministerpr­äsident arbeiten. Sie waren ausführend­e Organe der Besatzungs­macht, ohne jede demokratis­che Legitimati­on, da es zunächst noch keine Wahlen für Gemeinde-, Stadt-, Kreisräte und Landesparl­amente gab. An gutem Willen fehlte es allerdings nicht: In unterschie­dlichem Maße wollten alle Alliierten den Deutschen demokratis­che Regierungs­methoden beibringen.

Die ersten Wahlen auf Gemeindeeb­ene fanden in der amerikanis­chen Zone bereits im Januar 1946 statt. Erstmals seit 1933 konnten die Deutschen sich wieder am demokratis­chen Prozess beteiligen.

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