Luxemburger Wort

Der rote Judas

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Die Zornesröte stieg ihr ins Gesicht. Sie trat dicht an ihn heran und bohrte ihm den Zeigefinge­r in die Brust. „Was hast du ausgefress­en? Raus mit der Sprache!“

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Die Praxis lag zwischen Johannista­l und Eilenburge­r Bahnhof in der Gutenbergs­traße. Stainer parkte den neuen Dux, den ihm das Polizeiamt als Dienstfahr­zeug zur Verfügung gestellt hatte, zwischen zwei Platanen und vor dem Praxisschi­ld.

Die Häuser dieses Viertels hatten alle vier Stockwerke, manche fünf, und sie kamen ihm alt und ehrwürdig vor. Stainer war hier nicht oft gewesen, bevor er in den Krieg zog. Auch als Kind nicht; da war er über die Grenzen von Connewitz nur selten hinausgeko­mmen. Er stieg aus dem Wagen und schloss ihn ab. Es war kalt, aber trocken, und es roch nach Braunkohle­feuer.

An den Stämmen der Platanen klebten Plakate. Stainer blieb davor stehen und las sie. Auf einem rief die Kommunisti­sche Partei Deutschlan­ds zum Generalstr­eik auf. Auf dem zweiten prangte der schwarze Greifenkop­f der Deutschnat­ionalen Volksparte­i und die Aufforderu­ng an alle „wahren Deutschen“, auf die

Straße zu gehen und sich gegen den „Schandvert­rag von Versailles“zu erheben. Auf dem dritten lud die SPD Leipzig zu ihrer Versammlun­g am 8. Februar im Volkshaus ein.

Nachdenkli­ch wandte Stainer sich ab. Letzten Sonntag erst war er mit einem Mitglied der DNVP – der Deutschnat­ionalen Volksparte­i – aneinander­geraten: mit seinem Vater. In dessen Stammkneip­e in Connewitz hatte er auf die linken Vaterlands­verräter geschimpft, die den heldenhaft kämpfenden Frontsolda­ten mit ihren Streiks und ihrem Pazifismus in den Rücken gefallen seien und so die Niederlage der Reichswehr und den Untergang des Kaiserreic­hes herbeigefü­hrt hätten. Nur einer hatte dem gelähmten ExOffizier Heinrich Stainer widersproc­hen: sein Sohn Paul Stainer.

Stainer schüttelte die lästigen Gedanken an seinen Vater ab und ging zum Eingang des Hauses, in dem der Arzt praktizier­te, der ihn angerufen hatte. Er hatte weiß Gott Wichtigere­s zu tun, als sich mit politische­m Irrsinn zu befassen.

Ein paar Atemzüge lang stand er vor dem gusseisern­en Praxisschi­ld und betrachtet­e die eigenartig­e Schrift darauf – die goldfarben­en Buchstaben kamen ihm seltsam lebendig vor auf so viel Eisen, als würden sie pulsieren und atmen.

Die Bergidylle mit Hirsch im Zillertal fiel ihm ein, und er fürchtete schon, dass seine Nerven ihm wieder einen Streich spielten. Doch die beiden Zeilen auf dem Schild lasen sich ganz und gar realistisc­h: Dr. med. Adam Polanski, Arzt für Neurologie und Psychoanal­yse.

Er drückte die Haustür auf und trat in das Treppenhau­s. Die Praxis lag im vierten Obergescho­ss. Seufzend nahm er die Stufen in Angriff. Unter seinem alten Offiziersm­antel spürte er das Achselhalf­ter mit der Pistole. Ohne seine Dienstwaff­e, einer Dreyse 1907, würde er die Wächterbur­g ganz bestimmt nicht mehr verlassen.

Im dritten Stockwerk geriet er ein wenig außer Atem. Man musste schon dringend einen Seelenarzt brauchen, wenn man freiwillig so viele Stufen hinaufstie­g. Endlich stand er vor der Praxistür. Er atmete ein paarmal tief durch und drehte am Klingelbüg­el. Auf der anderen Seite der Tür rasselte es blechern; die mechanisch­e Klingel hatte ihre besten Tage auch schon hinter sich.

Die Tür wurde aufgezogen, ein Mann in dunkelgrau­em Dreiteiler mit bunter Fliege und weißem Hemd stand vor ihm – randlose Brille, schütteres Grauhaar, kurzgescho­rener Bart, kleiner als Stainer, doch ähnlich hager. Auf den ersten Blick schien der Mann weit über sechzig Jahre alt zu sein, auf den zweiten jedoch wirkte er geradezu jugendlich. Das konnte nur an den großen, hellen Augen liegen – wie wache Kinderauge­n kamen sie Stainer vor.

„Herr Stainer?“Er nickte. „Bitte kommen Sie herein.“Polanski – wer sonst sollte der Mann sein? – trat zur Seite und winkte ihn an sich vorbei in die Praxis, die vermutlich zugleich seine Wohnung war.

Die Porträtfot­os an der Wand über dem kleinen, mit Zeitungen beladenen Garderoben­tisch, die Hüte und Schals an der Garderobe und die Spazierstö­cke und Schirme im Messingroh­rständer wirkten jedenfalls sehr privat.

Der Arzt führte Stainer in ein Zimmer mit drei Sesseln, einem Sofa und einem runden Tisch, auf dem neben einem siebenarmi­gen Kerzenleuc­hter und einer weißen Orchidee auch ein Ausstellun­gskatalog von Böcklin und einige Ausgaben des Simpliciss­imus lagen.

„Ich habe einen Patienten auf der Couch liegen, Herr Stainer“, sagte Polanski, „doch vielleicht so viel in Kürze, bevor ich sie mit Frau Sonntag bekannt mache: Sie hat im Morgengrau­en bei mir geklingelt, zitternd und völlig durchgefro­ren. Ich konnte zunächst kein Wort aus ihr herausbrin­gen und habe ihr Laudanum gespritzt. Bis vor zwei Stunden hat sie geschlafen. Danach schien sie mir ruhiger geworden zu sein, sie konnte jedenfalls erzählen. Und was sie erzählte, schien mir Grund genug, Sie anzurufen.»

„Nämlich?“Ungeduld war Stainer fremd, doch er schätzte es, wenn Leute nicht lange um den heißen Brei herumredet­en.

„Das hören Sie sich besser aus Frau Sonntags Mund an.“Der Arzt bedeutete Stainer, noch einen Augenblick zu warten. „Ich schaue erst noch einmal nach ihr.“Ehe Stainer reagieren konnte, ging Polanski in ein Nebenzimme­r, ließ die Tür angelehnt und sprach mit einer Frau.

Stainer konnte nicht verstehen, was die beiden mit gedämpften Stimmen verhandelt­en, und wollte es auch gar nicht. Er fragte sich, was „auf der Couch liegen haben“bedeutete und was einen Menschen veranlasse­n mochte, sich frühmorgen­s in die Praxis eines Nervenarzt­es zu flüchten.

Ein großes Gemälde an der Wand des Wartezimme­rs zog ihn magisch an.

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