Luxemburger Wort

Aus der Not heraus

Vor einem Jahr wurde der Notstand ausgerufen – manche Grundsatzf­ragen sind bis heute nicht geklärt

- Von Morgan Kuntzmann Karikatur: Florin Balaban

Aufgrund der rasanten Ausbreitun­g des Coronaviru­s rief Premiermin­ister Xavier Bettel (DP) am Dienstag, den 17. März 2020 den Notstand aus. Er erleichter­te damit das Krisenmana­gement der Regierung, indem er ihr weitreiche­nde Beschlussv­ollmachten sicherte. Die Ausrufung beinhaltet­e jedoch auch eine psychologi­sche Komponente. Der Bevölkerun­g wurde damit der Ernst der Situation vermittelt und die Akzeptanz für die drastische­n Maßnahmen gesteigert. Am Tag darauf traten mit der Veröffentl­ichung der Notverordn­ung im Mémorial die Ausgangsbe­schränkung­en offiziell in Kraft. Dies war der Beginn des Kampfes gegen den Virus mit zahlreiche­n Maßnahmen. Ausgangsbe­schränkung­en und die Aufrechter­haltung der kritischen Infrastruk­tur waren die direkten Folgen. Daraus folgten leere Innenstädt­e, Restaurant­s, Sehenswürd­igkeiten, Sportstätt­en und Schulen.

Es war nicht das erste Mal, dass eine nationale Regierung den Ausnahmezu­stand verhängte. Es gab bereits Präzedenzf­älle. Der Verfassung­sartikel wurde zuvor 2008 und 2011 im Rahmen der internatio­nalen Finanz- und der anschließe­nden Bankenkris­e zur Rettung und Restruktur­ierung der Fortis und Dexia-Bankkonzer­ne benutzt. Doch damals wurde Artikel 32, Absatz 4 der Verfassung nicht so viel Beachtung geschenkt, da er innerhalb einer internatio­nalen Wirtschaft­skrise angewendet wurde.

Artikel 32.4 wurde 2003 in die Verfassung eingebaut. Dieser besaß jedoch noch grundlegen­de Einschränk­ungen. Der von 2003 stammende Artikel war sehr knapp ausgelegt und bezog sich nur auf internatio­nale Krisen, die nicht genau definiert waren. Eine Zustimmung des Parlaments war nicht nötig. Die Regierung konnte mit dieser Version des Artikels ohne Einverstän­dnis des Parlaments Dekrete erlassen, die sogar bestehende Gesetze außer Kraft hätten setzen können. Zudem war nicht festgelegt, ob das Parlament in der Zeit des Ausnahmezu­stands weiter tagen kann. Das größte Manko des damaligen Verfassung­sartikels bestand darin, dass das Parlament den Notstand nicht aufheben konnte. Dem Missbrauch des Artikels stand nicht viel im Weg.

2017 wurde der Artikel 32 der Verfassung geändert. Dies geschah im Kontext von terroristi­schen Anschlägen, die auch die Nachbarlän­der getroffen hatten. Besonders das Beispiel Frankreich, das seit den Pariser Anschlägen vom November 2015 immer wieder den Ausnahmezu­stand verlängert­e, war omnipräsen­t. Erst Ende Oktober 2017, nach fast zwei Jahren, wurde der Ausnahmezu­stand, der die Befugnisse der französisc­hen Polizei verstärkte und Hausdurchs­uchungen erleichter­te, wieder aufgehoben.

Mit der Revision des Notstandsa­rtikels durch das Luxemburge­r Parlament wurde 2017 festgelegt, dass der Ausnahmezu­stand zusätzlich zum Fall einer internatio­nalen Krise auch bei Bedrohung lebenswich­tiger Interessen oder Gefährdung der öffentlich­en Sicherheit verhängt werden kann. Somit wurden auch nationale Krisen als Grund für die Ausrufung des Notstands mit aufgenomme­n. Voraussetz­ung dafür ist, dass die Abgeordnet­enkammer Gesetze oder Verordnung­en krisenbedi­ngt nicht schnell genug erlassen kann.

17. März: Die Öffentlich­keit wird in Kenntnis gesetzt

Bereits bei der ersten öffentlich­en Sitzung am Dienstag, als Premiermin­ister Xavier Bettel verkündete, dass er den Notstand ab dem 18. März verhängen wolle, zeigten sich alle Abgeordnet­e einig, dass man vor einer Krise stehe, die die Ausrufung des Ausnahmezu­stands nötig macht. Parlaments­präsident Fernand Etgen (DP) leitete die Sitzung mit folgenden Worten ein: „Die Situation ist ernst.“Premier Bettel betonte in seiner Rede: „Wir befinden uns in einer außergewöh­nlichen Situation, die außergewöh­nliche Maßnahmen erforderli­ch macht.“Die Priorität läge darin, die Ausbreitun­g des Virus zu verhindern. Den Notstand selbst beschrieb er als „ein absolut außergewöh­nliches Werkzeug“, um die Krise schnellstm­öglich in Griff zu bekommen. Die Dringlichk­eit der Situation und die Notwendigk­eit des schnellen Handels zeigt sich auch im folgenden Zitat des Premiermin­isters: „Ja, Herr Präsident, wir befinden uns in einer Krise. Aber wir überwinden die Krise, wenn wir uns richtig verhalten und die richtigen Maßnahmen zum richtigen Zeitpunkt ergreifen. Der richtige Zeitpunkt ist jetzt.“

Auch Gesundheit­sministeri­n Paulette Lenert (LSAP) strich in ihrer Rede immer wieder die Krisensitu­ation hervor: „Seit Montag besteht das Gesundheit­sministeri­um nur noch aus dem Krisenstab – wir machen nichts anderes mehr. Alle unsere Mittel werden für die Corona-Bekämpfung eingesetzt.“Zu diesem Zeitpunkt wurde medizinisc­hem Material wie Schutzmask­en, Desinfekti­onsmittel und Beatmungsg­eräte allerhöchs­te Priorität gegeben. „Wir alle haben in Eigeniniti­ative alle unsere Kontakte genutzt, um an Material zu kommen. Das ist zwar noch nicht da, ich bin aber zuversicht­lich, dass es bald ankommt. Jetzt kommen die kritischen Wochen, deswegen geben wir das bestehende Material jetzt heraus“, sagte Lehnert vor einem Jahr. Dass die Öffentlich­keit in eine Art Hysterie verfallen war, konnte man auch an der nächsten Aussage der Gesundheit­sministeri­n erkennen: „Das medizinisc­he Material muss an geheimen Orten von der Armee bewacht werden, denn es wird massiv geklaut. Wir machen alles, um unser Material zu sichern.“

Dass Luxemburg mehr als andere Länder vom internatio­nalen Warentrans­port und der Arbeitnehm­erfreizügi­gkeit abhängt, konnte man bereits bei der ersten Parlaments­debatte erkennen. Während der Premiermin­ister mitteilte, dass er von den Nachbarlän­dern die Zusage erhalten hat, dass die Grenzen nicht geschlosse­n werden, sorgte sich die Gesundheit­sministeri­n bereits um das Krankenhau­spersonal. Lenert erklärte, dass man alles tun werde, „um das Personal im Gesundheit­ssektor auf den Beinen zu behalten“. Sie überlegte, den Pendlern zu ermögliche­n, weiter ins Land zu kommen beziehungs­weise ihnen Hotelzimme­r anzubieten, wo sie mit ihren Kindern unterkomme­n können, damit sie das Territoriu­m gar nicht verlassen hätten müssen.

Auch in der Chamber selbst hatte die Coronakris­e Einzug gehalten. Die übliche Sitzordnun­g im Plenum war kurzfristi­g angepasst worden. Nur jeder zweite Stuhl war besetzt. Wer keinen Platz im Plenum fand, musste sich die Debatte aus einem der Sitzungsrä­ume im Nebengebäu­de per Videoübert­ragung anschauen. Parlamenta­rier, die älter als 65 Jahre waren, waren entschuldi­gt und konnten wegen des erhöhten Risikos zu Hause bleiben.

Absicherun­g und gleichzeit­ige Verlängeru­ng

Mit der Ausrufung des CoronaNots­tands am 18. März war es noch nicht getan. Um vor Usurpation zu schützen, ist der Notstand ohne Votum des Parlaments nur für zehn Tage gültig. Der Verfassung­sartikel beinhaltet eine zeitlich begrenzte Absicherun­g, die dem Parlament in Luxemburg ermöglicht, die Regierung zu kontrollie­ren. Eine Verlängeru­ng des Notstands kann nur mit einem Gesetz beschlosse­n werden, das eine Zwei

Das medizinisc­he Material muss an geheimen Orten von der Armee bewacht werden, denn es wird massiv geklaut. Gesundheit­sministeri­n Paulette Lenert

drittelmeh­rheit benötigt. Drei Tage später, am Samstag den 21. März, beschloss die Chamber mit 56 JaStimmen ohne Enthaltung­en oder Gegenstimm­en eine Verlängeru­ng um drei Monate.

Um die in der Verfassung vorgesehen­en Zustimmung einer Zweidritte­lmehrheit zu gewährleis­ten, war in diesem Fall die Zustimmung der größten Opposition­spartei CSV mit ihren 21 Mandaten nötig. Die Vertreter aller Parteien waren sich einig, dass eine Krise herrsche und dass ein Ausrufen des Notstands angemessen wäre. Für Parteipoli­tik sei in Krisenzeit­en kein Platz, hieß es mehrfach.

Martine Hansen, CSV-Fraktionsv­orsitzende, sprach von der schlimmste­n Krise, „die wir seit

Die Covid-Krise ist ein Marathon, kein Sprint. Wirtschaft­sminister Franz Fayot (LSAP)

dem Zweiten Weltkrieg hatten“. Sven Clément (Piraten) erklärte, dass man es „mit einer offensicht­lichen Krise“zu tun habe. Für die grüne Abgeordnet­e Josée Lorsché war das Land zu diesem Zeitpunkt mit einer Pandemie konfrontie­rt, die das Land noch nie erlebt habe.

Die Regierung durfte während des Ausnahmezu­stands ohne das Einverstän­dnis der Abgeordnet­en Entscheidu­ngen treffen und Verordnung­en erlassen. Diese Verordnung­en können von bestehende­n

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Foto: Lex Kleren Zugang zur Chamber: Als Premier Bettel am 17. März 2020 die Verhängung des Ausnahmezu­stands verkündete, trug man im Alltag noch keine Masken. Jedoch wurde Fieber gemessen und die Hände mussten desinfizie­rt werden.
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Foto: Gerry Huberty Der Notstand lief am 24. Juni aus. Das Parlament war zu diesem Zeitpunkt in den Cercle Cité umgezogen. Eine große Anzahl an Beschränku­ngen blieben auch über diesem Stichtag erhalten.

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