Aus der Not heraus
Vor einem Jahr wurde der Notstand ausgerufen – manche Grundsatzfragen sind bis heute nicht geklärt
Aufgrund der rasanten Ausbreitung des Coronavirus rief Premierminister Xavier Bettel (DP) am Dienstag, den 17. März 2020 den Notstand aus. Er erleichterte damit das Krisenmanagement der Regierung, indem er ihr weitreichende Beschlussvollmachten sicherte. Die Ausrufung beinhaltete jedoch auch eine psychologische Komponente. Der Bevölkerung wurde damit der Ernst der Situation vermittelt und die Akzeptanz für die drastischen Maßnahmen gesteigert. Am Tag darauf traten mit der Veröffentlichung der Notverordnung im Mémorial die Ausgangsbeschränkungen offiziell in Kraft. Dies war der Beginn des Kampfes gegen den Virus mit zahlreichen Maßnahmen. Ausgangsbeschränkungen und die Aufrechterhaltung der kritischen Infrastruktur waren die direkten Folgen. Daraus folgten leere Innenstädte, Restaurants, Sehenswürdigkeiten, Sportstätten und Schulen.
Es war nicht das erste Mal, dass eine nationale Regierung den Ausnahmezustand verhängte. Es gab bereits Präzedenzfälle. Der Verfassungsartikel wurde zuvor 2008 und 2011 im Rahmen der internationalen Finanz- und der anschließenden Bankenkrise zur Rettung und Restrukturierung der Fortis und Dexia-Bankkonzerne benutzt. Doch damals wurde Artikel 32, Absatz 4 der Verfassung nicht so viel Beachtung geschenkt, da er innerhalb einer internationalen Wirtschaftskrise angewendet wurde.
Artikel 32.4 wurde 2003 in die Verfassung eingebaut. Dieser besaß jedoch noch grundlegende Einschränkungen. Der von 2003 stammende Artikel war sehr knapp ausgelegt und bezog sich nur auf internationale Krisen, die nicht genau definiert waren. Eine Zustimmung des Parlaments war nicht nötig. Die Regierung konnte mit dieser Version des Artikels ohne Einverständnis des Parlaments Dekrete erlassen, die sogar bestehende Gesetze außer Kraft hätten setzen können. Zudem war nicht festgelegt, ob das Parlament in der Zeit des Ausnahmezustands weiter tagen kann. Das größte Manko des damaligen Verfassungsartikels bestand darin, dass das Parlament den Notstand nicht aufheben konnte. Dem Missbrauch des Artikels stand nicht viel im Weg.
2017 wurde der Artikel 32 der Verfassung geändert. Dies geschah im Kontext von terroristischen Anschlägen, die auch die Nachbarländer getroffen hatten. Besonders das Beispiel Frankreich, das seit den Pariser Anschlägen vom November 2015 immer wieder den Ausnahmezustand verlängerte, war omnipräsent. Erst Ende Oktober 2017, nach fast zwei Jahren, wurde der Ausnahmezustand, der die Befugnisse der französischen Polizei verstärkte und Hausdurchsuchungen erleichterte, wieder aufgehoben.
Mit der Revision des Notstandsartikels durch das Luxemburger Parlament wurde 2017 festgelegt, dass der Ausnahmezustand zusätzlich zum Fall einer internationalen Krise auch bei Bedrohung lebenswichtiger Interessen oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit verhängt werden kann. Somit wurden auch nationale Krisen als Grund für die Ausrufung des Notstands mit aufgenommen. Voraussetzung dafür ist, dass die Abgeordnetenkammer Gesetze oder Verordnungen krisenbedingt nicht schnell genug erlassen kann.
17. März: Die Öffentlichkeit wird in Kenntnis gesetzt
Bereits bei der ersten öffentlichen Sitzung am Dienstag, als Premierminister Xavier Bettel verkündete, dass er den Notstand ab dem 18. März verhängen wolle, zeigten sich alle Abgeordnete einig, dass man vor einer Krise stehe, die die Ausrufung des Ausnahmezustands nötig macht. Parlamentspräsident Fernand Etgen (DP) leitete die Sitzung mit folgenden Worten ein: „Die Situation ist ernst.“Premier Bettel betonte in seiner Rede: „Wir befinden uns in einer außergewöhnlichen Situation, die außergewöhnliche Maßnahmen erforderlich macht.“Die Priorität läge darin, die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Den Notstand selbst beschrieb er als „ein absolut außergewöhnliches Werkzeug“, um die Krise schnellstmöglich in Griff zu bekommen. Die Dringlichkeit der Situation und die Notwendigkeit des schnellen Handels zeigt sich auch im folgenden Zitat des Premierministers: „Ja, Herr Präsident, wir befinden uns in einer Krise. Aber wir überwinden die Krise, wenn wir uns richtig verhalten und die richtigen Maßnahmen zum richtigen Zeitpunkt ergreifen. Der richtige Zeitpunkt ist jetzt.“
Auch Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) strich in ihrer Rede immer wieder die Krisensituation hervor: „Seit Montag besteht das Gesundheitsministerium nur noch aus dem Krisenstab – wir machen nichts anderes mehr. Alle unsere Mittel werden für die Corona-Bekämpfung eingesetzt.“Zu diesem Zeitpunkt wurde medizinischem Material wie Schutzmasken, Desinfektionsmittel und Beatmungsgeräte allerhöchste Priorität gegeben. „Wir alle haben in Eigeninitiative alle unsere Kontakte genutzt, um an Material zu kommen. Das ist zwar noch nicht da, ich bin aber zuversichtlich, dass es bald ankommt. Jetzt kommen die kritischen Wochen, deswegen geben wir das bestehende Material jetzt heraus“, sagte Lehnert vor einem Jahr. Dass die Öffentlichkeit in eine Art Hysterie verfallen war, konnte man auch an der nächsten Aussage der Gesundheitsministerin erkennen: „Das medizinische Material muss an geheimen Orten von der Armee bewacht werden, denn es wird massiv geklaut. Wir machen alles, um unser Material zu sichern.“
Dass Luxemburg mehr als andere Länder vom internationalen Warentransport und der Arbeitnehmerfreizügigkeit abhängt, konnte man bereits bei der ersten Parlamentsdebatte erkennen. Während der Premierminister mitteilte, dass er von den Nachbarländern die Zusage erhalten hat, dass die Grenzen nicht geschlossen werden, sorgte sich die Gesundheitsministerin bereits um das Krankenhauspersonal. Lenert erklärte, dass man alles tun werde, „um das Personal im Gesundheitssektor auf den Beinen zu behalten“. Sie überlegte, den Pendlern zu ermöglichen, weiter ins Land zu kommen beziehungsweise ihnen Hotelzimmer anzubieten, wo sie mit ihren Kindern unterkommen können, damit sie das Territorium gar nicht verlassen hätten müssen.
Auch in der Chamber selbst hatte die Coronakrise Einzug gehalten. Die übliche Sitzordnung im Plenum war kurzfristig angepasst worden. Nur jeder zweite Stuhl war besetzt. Wer keinen Platz im Plenum fand, musste sich die Debatte aus einem der Sitzungsräume im Nebengebäude per Videoübertragung anschauen. Parlamentarier, die älter als 65 Jahre waren, waren entschuldigt und konnten wegen des erhöhten Risikos zu Hause bleiben.
Absicherung und gleichzeitige Verlängerung
Mit der Ausrufung des CoronaNotstands am 18. März war es noch nicht getan. Um vor Usurpation zu schützen, ist der Notstand ohne Votum des Parlaments nur für zehn Tage gültig. Der Verfassungsartikel beinhaltet eine zeitlich begrenzte Absicherung, die dem Parlament in Luxemburg ermöglicht, die Regierung zu kontrollieren. Eine Verlängerung des Notstands kann nur mit einem Gesetz beschlossen werden, das eine Zwei
Das medizinische Material muss an geheimen Orten von der Armee bewacht werden, denn es wird massiv geklaut. Gesundheitsministerin Paulette Lenert
drittelmehrheit benötigt. Drei Tage später, am Samstag den 21. März, beschloss die Chamber mit 56 JaStimmen ohne Enthaltungen oder Gegenstimmen eine Verlängerung um drei Monate.
Um die in der Verfassung vorgesehenen Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit zu gewährleisten, war in diesem Fall die Zustimmung der größten Oppositionspartei CSV mit ihren 21 Mandaten nötig. Die Vertreter aller Parteien waren sich einig, dass eine Krise herrsche und dass ein Ausrufen des Notstands angemessen wäre. Für Parteipolitik sei in Krisenzeiten kein Platz, hieß es mehrfach.
Martine Hansen, CSV-Fraktionsvorsitzende, sprach von der schlimmsten Krise, „die wir seit
Die Covid-Krise ist ein Marathon, kein Sprint. Wirtschaftsminister Franz Fayot (LSAP)
dem Zweiten Weltkrieg hatten“. Sven Clément (Piraten) erklärte, dass man es „mit einer offensichtlichen Krise“zu tun habe. Für die grüne Abgeordnete Josée Lorsché war das Land zu diesem Zeitpunkt mit einer Pandemie konfrontiert, die das Land noch nie erlebt habe.
Die Regierung durfte während des Ausnahmezustands ohne das Einverständnis der Abgeordneten Entscheidungen treffen und Verordnungen erlassen. Diese Verordnungen können von bestehenden