Nichts lernen und trotzdem weiterkommen
Lehrergewerkschaft Féduse prangert chaotische Zustände in der Unterstufe des ESG an und fordert Anpassungen
Seit Längerem beschweren sich Lehrer über katastrophale Zustände im Cycle inférieur des früheren Technique (heute ESG). Das Problem: Selbst schlechteste Leistungen verhindern nicht, dass Schüler in die nächste Stufe versetzt werden. Unabhängig von ihrer Leistung avancieren Schüler von 7e auf 6e und weiter auf 5e. Grund sind die komplizierten und für Schüler und Eltern unverständlichen Versetzungskriterien, die ein Weiterkommen ermöglichen.
Böses Erwachen nach drei Jahren Auf 5e kommt das böse Erwachen, der Moment der Wahrheit. Die Schüler erkennen, dass ihnen viele Berufsrichtungen aufgrund ihrer schlechten Leistung verschlossen bleiben. Viele entscheiden sich dazu, die Klasse zu wiederholen, in der Hoffnung auf bessere Noten und damit erweiterte Orientierungsmöglichkeiten. Das wiederum schafft auf der 5e einen Stau mit unzähligen Sitzenbleibern, die enorme Wissenslücken aufweisen. Manche Schulen sehen sich sogar gezwungen, zusätzliche Sitzenbleiber-Klassen zu schaffen.
Auch die Délégation nationale des enseignants (DNE) hatte Ende November in einem Schreiben auf die Probleme im Cycle inférieur hingewiesen. „Die Situation ist jetzt die, dass Schüler nicht trotz einer oder zwei Schwächen weiterkommen, sondern ohne wirkliche Stärken. Es gibt Schüler, die regelrecht weiter scheitern, ohne die Möglichkeit zu bekommen, den Lernstoff einmal zu wiederholen“, so die DNE in ihrer damaligen Mitteilung.
Die Féduse sieht dringenden Handlungsbedarf und forderte gestern in einer Pressemitteilung die Schaffung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe mit Vertretern des Bildungsministeriums. Auf Nachfrage erklärte das Bildungsministerium gestern, man werde die Reform
einer Bilanz unterziehen. In Zusammenarbeit mit den Schuldirektionen sei schon daran gearbeitet worden. Auch mit den Gewerkschaften würden Gespräche aufgenommen. Das Ministerium stellte Anpassungen in Aussicht, am Prinzip aber werde man festhalten.
Das Prinzip ist die automatische Versetzung, gekoppelt an ein zweistufiges System (Niveau avancé und Niveau de base), das Schüler mit Teilschwächen gezielt unterstützt, damit sie nicht an einer schlechten Note scheitern. „Die
Idee war, diesen Schülern entgegenzukommen“, sagt Scholtes. Tatsächlich aber habe die Reform dazu geführt, dass die Schüler sich generell kaum noch anstrengen.
Minimaler Energieaufwand
Das sei nur allzu menschlich, sagt Scholtes. „Der Mensch entscheidet sich für den niedrigsten Energieaufwand, weil das sein Überleben sichert“, so der Biologe. In diesem Fall aber sei das zum Nachteil der Schüler. Das Fatale an der Reform: Die Klassenwiederholung wurde quasi abgeschafft. Ist die Leistung ungenügend, bleibt der Schüler nicht sitzen, sondern wird in den Hauptfächern (Sprachen und Mathematik) abgestuft – vom Niveau avancé auf das Niveau de base – und in die nächste Stufe versetzt.
Die Féduse gibt ein Beispiel, das illustriert, was im extremen Fall möglich ist: Ein Schüler, der in zwei Sprachen 20 von 60 Punkten erreicht und in allen anderen Fächern einen Jahresdurchschnitt von 1/60 vorweist, avanciert trotzdem zur 5eG. Nach der 5e dann gelten strengere Versetzungskriterien und der Traum von der Ausbildung platzt.
Das Versetzungssystem sieht eine Vielzahl von Stellschrauben vor, an denen gedreht werden kann, um Noten aufzuwerten. Dazu gehören auch die Notenkorridore (zwischen 25 und 29 beziehungsweise 35 und 39 Punkten). Auch sie seien von der Idee her interessant, weil sie dem Conseil de classe eine gewisse Flexibilität geben, Noten aufzuwerten. In der Praxis sieht die Sache anders aus.
Wie müsste das System idealerweise sein? Raoul Scholtes überlegt kurz. „Chaos entsteht immer dann, wenn es zu viele Variablen gibt, an denen man drehen kann. Man müsste prüfen, welche Variablen Sinn machen und welche man einschränken sollte“, schlägt Scholtes vor – eine Lösung zwischen früher und heute. „Früher hatten wir ein System, das nichts verziehen hat. Jetzt haben wir ein System, das quasi alles verzeiht – und das ohne vom Schüler zu verlangen, die Defizite in der nächsten Stufe aufzuarbeiten“.
Scholtes sieht auch Optimierungsbedarf bei den internen Kompensierungen – Beispiel Naturwissenschaften und Informatik. Aus den Noten beider Fächer wird eine Durchschnittsnote errechnet. Das führe dazu, dass Schüler, wenn sie genügend Punkte in dem einen Fach haben, sich im anderen Fach gar nicht mehr anstrengen.
Früher hatten wir ein System, das nichts verziehen hat. Jetzt haben wir ein System, das quasi alles verzeiht. Raoul Scholtes, Féduse