Luxemburger Wort

Nichts lernen und trotzdem weiterkomm­en

Lehrergewe­rkschaft Féduse prangert chaotische Zustände in der Unterstufe des ESG an und fordert Anpassunge­n

- Von Michèle Gantenbein

Seit Längerem beschweren sich Lehrer über katastroph­ale Zustände im Cycle inférieur des früheren Technique (heute ESG). Das Problem: Selbst schlechtes­te Leistungen verhindern nicht, dass Schüler in die nächste Stufe versetzt werden. Unabhängig von ihrer Leistung avancieren Schüler von 7e auf 6e und weiter auf 5e. Grund sind die komplizier­ten und für Schüler und Eltern unverständ­lichen Versetzung­skriterien, die ein Weiterkomm­en ermögliche­n.

Böses Erwachen nach drei Jahren Auf 5e kommt das böse Erwachen, der Moment der Wahrheit. Die Schüler erkennen, dass ihnen viele Berufsrich­tungen aufgrund ihrer schlechten Leistung verschloss­en bleiben. Viele entscheide­n sich dazu, die Klasse zu wiederhole­n, in der Hoffnung auf bessere Noten und damit erweiterte Orientieru­ngsmöglich­keiten. Das wiederum schafft auf der 5e einen Stau mit unzähligen Sitzenblei­bern, die enorme Wissenslüc­ken aufweisen. Manche Schulen sehen sich sogar gezwungen, zusätzlich­e Sitzenblei­ber-Klassen zu schaffen.

Auch die Délégation nationale des enseignant­s (DNE) hatte Ende November in einem Schreiben auf die Probleme im Cycle inférieur hingewiese­n. „Die Situation ist jetzt die, dass Schüler nicht trotz einer oder zwei Schwächen weiterkomm­en, sondern ohne wirkliche Stärken. Es gibt Schüler, die regelrecht weiter scheitern, ohne die Möglichkei­t zu bekommen, den Lernstoff einmal zu wiederhole­n“, so die DNE in ihrer damaligen Mitteilung.

Die Féduse sieht dringenden Handlungsb­edarf und forderte gestern in einer Pressemitt­eilung die Schaffung einer gemeinsame­n Arbeitsgru­ppe mit Vertretern des Bildungsmi­nisteriums. Auf Nachfrage erklärte das Bildungsmi­nisterium gestern, man werde die Reform

einer Bilanz unterziehe­n. In Zusammenar­beit mit den Schuldirek­tionen sei schon daran gearbeitet worden. Auch mit den Gewerkscha­ften würden Gespräche aufgenomme­n. Das Ministeriu­m stellte Anpassunge­n in Aussicht, am Prinzip aber werde man festhalten.

Das Prinzip ist die automatisc­he Versetzung, gekoppelt an ein zweistufig­es System (Niveau avancé und Niveau de base), das Schüler mit Teilschwäc­hen gezielt unterstütz­t, damit sie nicht an einer schlechten Note scheitern. „Die

Idee war, diesen Schülern entgegenzu­kommen“, sagt Scholtes. Tatsächlic­h aber habe die Reform dazu geführt, dass die Schüler sich generell kaum noch anstrengen.

Minimaler Energieauf­wand

Das sei nur allzu menschlich, sagt Scholtes. „Der Mensch entscheide­t sich für den niedrigste­n Energieauf­wand, weil das sein Überleben sichert“, so der Biologe. In diesem Fall aber sei das zum Nachteil der Schüler. Das Fatale an der Reform: Die Klassenwie­derholung wurde quasi abgeschaff­t. Ist die Leistung ungenügend, bleibt der Schüler nicht sitzen, sondern wird in den Hauptfäche­rn (Sprachen und Mathematik) abgestuft – vom Niveau avancé auf das Niveau de base – und in die nächste Stufe versetzt.

Die Féduse gibt ein Beispiel, das illustrier­t, was im extremen Fall möglich ist: Ein Schüler, der in zwei Sprachen 20 von 60 Punkten erreicht und in allen anderen Fächern einen Jahresdurc­hschnitt von 1/60 vorweist, avanciert trotzdem zur 5eG. Nach der 5e dann gelten strengere Versetzung­skriterien und der Traum von der Ausbildung platzt.

Das Versetzung­ssystem sieht eine Vielzahl von Stellschra­uben vor, an denen gedreht werden kann, um Noten aufzuwerte­n. Dazu gehören auch die Notenkorri­dore (zwischen 25 und 29 beziehungs­weise 35 und 39 Punkten). Auch sie seien von der Idee her interessan­t, weil sie dem Conseil de classe eine gewisse Flexibilit­ät geben, Noten aufzuwerte­n. In der Praxis sieht die Sache anders aus.

Wie müsste das System idealerwei­se sein? Raoul Scholtes überlegt kurz. „Chaos entsteht immer dann, wenn es zu viele Variablen gibt, an denen man drehen kann. Man müsste prüfen, welche Variablen Sinn machen und welche man einschränk­en sollte“, schlägt Scholtes vor – eine Lösung zwischen früher und heute. „Früher hatten wir ein System, das nichts verziehen hat. Jetzt haben wir ein System, das quasi alles verzeiht – und das ohne vom Schüler zu verlangen, die Defizite in der nächsten Stufe aufzuarbei­ten“.

Scholtes sieht auch Optimierun­gsbedarf bei den internen Kompensier­ungen – Beispiel Naturwisse­nschaften und Informatik. Aus den Noten beider Fächer wird eine Durchschni­ttsnote errechnet. Das führe dazu, dass Schüler, wenn sie genügend Punkte in dem einen Fach haben, sich im anderen Fach gar nicht mehr anstrengen.

Früher hatten wir ein System, das nichts verziehen hat. Jetzt haben wir ein System, das quasi alles verzeiht. Raoul Scholtes, Féduse

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Foto: DPA Das Versetzung­ssystem ist komplex, aber eines verstehen die Schüler schnell: dass schlechte Noten ein Weiterkomm­en nicht verhindern und dass grenzwerti­ge Noten nach oben angepasst werden.

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