Luxemburger Wort

Paulettes letzter Wille

Die begleitete Selbsttötu­ng einer Ex-Politikeri­n in der Schweiz hat in Frankreich die Debatte um Sterbehilf­e angeheizt

- Von Christine Longin (Paris) Illustrati­on: Shuttersto­ck

Die letzten Fotos zeigen Paulette Guinchard auf einem knallroten Dreirad. Die ehemalige Staatssekr­etärin für Senioren, die an einer neurodegen­erativen Erbkrankhe­it litt, konnte nicht mehr laufen und kaum noch sprechen. Bei ihrem Vater und ihrer Großmutter hatte sie gesehen, wie das Lebensende mit dieser unheilbare­n Krankheit aussah. Für sich wollte die 71-Jährige das nicht.

„Ich werde Kontakt mit einer Organisati­on in der Schweiz aufnehmen. Das ist kein Leben mehr“, kündigte sie laut der Zeitung „Le Parisien“vor einem Jahr an. Danach ging es schnell: Im Herbst reichte die populäre Sozialisti­n ihre Unterlagen ein, im Januar bekam sie den Termin und am 4. März starb Guinchard durch begleitete­n Suizid in Bern.

Frankreich hatte der energische­n Bauerntoch­ter den selbstbest­immten Tod verwehrt. Seit 2005 verbietet das Claeys-Leonetti-Gesetz die Lebensverl­ängerung durch therapeuti­sche Maßnahmen, wenn sterbenskr­anke Patienten das nicht wollen. „Die Behandlung muss nicht mit allen Mitteln fortgesetz­t werden. Wenn sie unnütz oder unangemess­en erscheint, darf sie beendet werden“, heißt es darin. Die profession­elle Beihilfe zum Suizid ist in Frankreich dagegen verboten. In Luxemburg wurde die Euthanasie 2009 legalisier­t.

„Als müsste die Krankheit ihre vollen zerstöreri­schen Auswirkung­en zeigen, damit sie von ihren Rechten Gebrauch machen konnte“, schrieb Marie-Guite Dufay, Präsidenti­n der Region Bourgogne Franche-Comté, nach dem Tod ihrer langjährig­en Freundin Paulette in der Zeitung „Libération“.

Die Sozialisti­n will nun im Auftrag Guinchards die Gesetzgebu­ng über aktive Sterbehilf­e vorantreib­en. „Warum nicht dem Kranken die Entscheidu­ng in einem strikten Rahmen überlassen, der gesetzlich geregelt ist?“.

Anfang April macht der frühere sozialisti­sche Abgeordnet­e Olivier Falorni einen Vorstoß, um den begleitete­n Suizid auch in Frankreich zu ermögliche­n. Unheilbar Kranke sollten durch Medikament­e die Möglichkei­t erhalten, schnell und ohne Schmerzen zu sterben, heißt es in dem Entwurf. Falorni könnte die Unterstütz­ung eines Teils der Regierungs­partei La République en Marche (LREM) bekommen. Die Vorsitzend­e des Justizauss­chusses, Yaël Braun-Pivet, kündigte bereits an, für die Initiative zu votieren. Laut einer 2019 veröffentl­ichten Ipsos-Umfrage befürworte­n über 90 Prozent der Französinn­en und Franzosen die aktive Sterbehilf­e für Fälle wie den von Guinchard.

Für die Regierung kommt die Debatte über das Lebensende zu einem ungünstige­n Zeitpunkt. „Seit Covid sind wir jeden Tag mit dem Tod konfrontie­rt. Mir scheint, dass man heute auf Texte setzen sollte, die Hoffnung machen und auf die Nachkriegs­zeit zielen“, bemerkte der Präsident der Nationalve­rsammlung, Richard Ferrand, in einem Fernsehint­erview. Gesundheit­sminister Olivier Véran lehnte vergangene Woche im Senat eine Gesetzesin­itiative des

LREM-Abgeordnet­en Jean-Louis Touraine über aktive Sterbehilf­e ab, die die Unterstütz­ung von 164 Parlamenta­riern hatte. Véran will statt dessen im April einen Plan vorlegen, wie die Palliativv­ersorgung verbessert werden kann.

Macron schweigt

Präsident Emmanuel Macron hat es bisher sorgfältig vermieden, beim heiklen Thema Sterbehilf­e etwas zu ändern. Schon zu Beginn seiner Amtszeit hielt der Staatschef sich aus der Debatte um den Tod des Komapatien­ten Vincent Lambert heraus. Frau und Mutter des bei einem Motorradun­fall verunglück­ten Krankenpfl­egers hatten jahrelang gestritten, ob die künstliche Ernährung Lamberts eingestell­t werden darf. Der Familienva­ter starb schließlic­h im Juli 2019, nachdem seine traditiona­listisch-katholisch­e Mutter 35 Prozesse für eine Fortsetzun­g der Behandlung ihres Sohnes verloren hatte. Auch die Forderung des unheilbar kranken Alain Cocq nach einem Gesetz für aktive Sterbehilf­e lehnte Macron im vergangene­n Jahr ab. In den nächsten Wochen geht der 57-Jährige deshalb denselben Weg wie Guinchard – zum Sterben in die Schweiz.

Warum nicht dem Kranken die Entscheidu­ng in einem strikten Rahmen überlassen, der gesetzlich geregelt ist? Marie-Guite Dufay, Präsidenti­n der Region Bourgogne Franche-Comté

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Seit 2005 verbietet das Claeys-Leonetti-Gesetz die Lebensverl­ängerung durch therapeuti­sche Maßnahmen, wenn sterbenskr­anke Patienten das nicht wollen.

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