Paulettes letzter Wille
Die begleitete Selbsttötung einer Ex-Politikerin in der Schweiz hat in Frankreich die Debatte um Sterbehilfe angeheizt
Die letzten Fotos zeigen Paulette Guinchard auf einem knallroten Dreirad. Die ehemalige Staatssekretärin für Senioren, die an einer neurodegenerativen Erbkrankheit litt, konnte nicht mehr laufen und kaum noch sprechen. Bei ihrem Vater und ihrer Großmutter hatte sie gesehen, wie das Lebensende mit dieser unheilbaren Krankheit aussah. Für sich wollte die 71-Jährige das nicht.
„Ich werde Kontakt mit einer Organisation in der Schweiz aufnehmen. Das ist kein Leben mehr“, kündigte sie laut der Zeitung „Le Parisien“vor einem Jahr an. Danach ging es schnell: Im Herbst reichte die populäre Sozialistin ihre Unterlagen ein, im Januar bekam sie den Termin und am 4. März starb Guinchard durch begleiteten Suizid in Bern.
Frankreich hatte der energischen Bauerntochter den selbstbestimmten Tod verwehrt. Seit 2005 verbietet das Claeys-Leonetti-Gesetz die Lebensverlängerung durch therapeutische Maßnahmen, wenn sterbenskranke Patienten das nicht wollen. „Die Behandlung muss nicht mit allen Mitteln fortgesetzt werden. Wenn sie unnütz oder unangemessen erscheint, darf sie beendet werden“, heißt es darin. Die professionelle Beihilfe zum Suizid ist in Frankreich dagegen verboten. In Luxemburg wurde die Euthanasie 2009 legalisiert.
„Als müsste die Krankheit ihre vollen zerstörerischen Auswirkungen zeigen, damit sie von ihren Rechten Gebrauch machen konnte“, schrieb Marie-Guite Dufay, Präsidentin der Region Bourgogne Franche-Comté, nach dem Tod ihrer langjährigen Freundin Paulette in der Zeitung „Libération“.
Die Sozialistin will nun im Auftrag Guinchards die Gesetzgebung über aktive Sterbehilfe vorantreiben. „Warum nicht dem Kranken die Entscheidung in einem strikten Rahmen überlassen, der gesetzlich geregelt ist?“.
Anfang April macht der frühere sozialistische Abgeordnete Olivier Falorni einen Vorstoß, um den begleiteten Suizid auch in Frankreich zu ermöglichen. Unheilbar Kranke sollten durch Medikamente die Möglichkeit erhalten, schnell und ohne Schmerzen zu sterben, heißt es in dem Entwurf. Falorni könnte die Unterstützung eines Teils der Regierungspartei La République en Marche (LREM) bekommen. Die Vorsitzende des Justizausschusses, Yaël Braun-Pivet, kündigte bereits an, für die Initiative zu votieren. Laut einer 2019 veröffentlichten Ipsos-Umfrage befürworten über 90 Prozent der Französinnen und Franzosen die aktive Sterbehilfe für Fälle wie den von Guinchard.
Für die Regierung kommt die Debatte über das Lebensende zu einem ungünstigen Zeitpunkt. „Seit Covid sind wir jeden Tag mit dem Tod konfrontiert. Mir scheint, dass man heute auf Texte setzen sollte, die Hoffnung machen und auf die Nachkriegszeit zielen“, bemerkte der Präsident der Nationalversammlung, Richard Ferrand, in einem Fernsehinterview. Gesundheitsminister Olivier Véran lehnte vergangene Woche im Senat eine Gesetzesinitiative des
LREM-Abgeordneten Jean-Louis Touraine über aktive Sterbehilfe ab, die die Unterstützung von 164 Parlamentariern hatte. Véran will statt dessen im April einen Plan vorlegen, wie die Palliativversorgung verbessert werden kann.
Macron schweigt
Präsident Emmanuel Macron hat es bisher sorgfältig vermieden, beim heiklen Thema Sterbehilfe etwas zu ändern. Schon zu Beginn seiner Amtszeit hielt der Staatschef sich aus der Debatte um den Tod des Komapatienten Vincent Lambert heraus. Frau und Mutter des bei einem Motorradunfall verunglückten Krankenpflegers hatten jahrelang gestritten, ob die künstliche Ernährung Lamberts eingestellt werden darf. Der Familienvater starb schließlich im Juli 2019, nachdem seine traditionalistisch-katholische Mutter 35 Prozesse für eine Fortsetzung der Behandlung ihres Sohnes verloren hatte. Auch die Forderung des unheilbar kranken Alain Cocq nach einem Gesetz für aktive Sterbehilfe lehnte Macron im vergangenen Jahr ab. In den nächsten Wochen geht der 57-Jährige deshalb denselben Weg wie Guinchard – zum Sterben in die Schweiz.
Warum nicht dem Kranken die Entscheidung in einem strikten Rahmen überlassen, der gesetzlich geregelt ist? Marie-Guite Dufay, Präsidentin der Region Bourgogne Franche-Comté