Der rote Judas
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Hin und wieder schob jemand einen mit Holz oder Kohle beladenen einachsigen Karren auf hohen Rädern und an langen Deichseln vorbei und dachte nicht daran auszuweichen, wenn hinter ihm ein Lastkraftwagen oder eine Droschke hupte. Auf beiden Seiten der Straße hetzten oder schlenderten Fußgänger in verschiedene Richtungen.
Heiland lehnte gegen die Wand, damit man ihn von der Straße aus nicht erkennen konnte. Er fühlte sich allein. Da unten kamen sie von der Arbeit, vom Fürsorgeamt, vom Marktplatz oder von einem Arzt und gingen nach Hause zu ihren Familien. Oder sie waren auf dem Weg in ihren Sportverein, ihre Bibelstunde, ihre Parteiversammlung oder in ihre Stammkneipe. Und er? Wo würde er hingehen heute Abend oder morgen oder übermorgen? Ins Gefängnis?
Er fühlte sich wie jemand, der nicht mehr dazugehörte – er fühlte sich mutterseelenallein.
An der Glut seiner Kippe zündete er sich die nächste Zigaret- te an. Der älteste seiner Cousins hatte ihm eine Schachtel am Jo- hannisplatz besorgt, von seinem Taschengeld. „Ich zahle es dir zurück, sobald die Reichsbahn meine Jacke herausrückt“, hatte Heiland ihm versprochen. Doch der Junge bestand darauf, ihm die Zigaretten zu schenken. Er hing an seinem großen Cousin; seit sein Vater verschollen war, mehr noch als früher.
Der volle Aschenbecher stand auf dem schwarzen frommen Büchlein von Tante Josephine. Heiland drückte seine Kippe aus und öffnete das Fenster. Er sog den Rauch tief ein und blies ihn in den rot gefleckten Abend hinaus. Wieder spürte er die brennende Sehnsucht nach Christel und seiner Tochter. „Mein Mäuschen“, seufzte er, „mein armes Mäuschen.“
Der Polizist war zum Glück nicht zurückgekommen. Und der zornigen Mona hatte Heiland eine neue Geschichte erzählt: In Gohlis, in der Kneipe Zum Alten Fritz, hätte er sich geprügelt und drei Männer niedergeschlagen. Daraufhin wären deren Kumpanen, dreizehn Kerle insgesamt, auf ihn losgegangen und er hätte Fersengeld geben müssen. Auf der Flucht wäre es ihm zum Glück gelungen, die Tür eines Gartenhauses aufzubrechen und sich dort vor der rachgierigen Meute zu verstecken. Und später hätte er vor lauter Aufregung seine Jacke in der Hütte liegen lassen.
Er selbst hätte sich die neue Geschichte geglaubt. Doch seine kluge Cousine? Heiland bezweifelte es. Jetzt arbeitete sie drüben in der Schwachsinnigenschule und die Jungen waren auf dem Lindenauer Sportplatz beim Fußballtraining. Sie spielten in den Nachwuchsmannschaften des VfB Leipzig.
Mit dem Brummen von Motoren und dem Rattern von Fuhrwerken drangen auch Mundharmonikaklänge von der Straße herauf. Heiland beugte sich aus dem Fenster und spähte hinunter. Ein beinamputierter Bettler mit Soldatenmütze hockte neben dem Hauseingang auf einem Rollbrett. Ein deutscher Schäferhund saß neben ihm.
Heiland spähte nach rechts. Vorn an der Dresdner Straße sah er eine Frau in der dunklen Uniform der Leipziger Straßenbahngesellschaft in die Salomonstraße einbiegen. Tante Josephine kam von der Arbeit. Er wollte sich Geld von ihr borgen, nur deswegen war er noch hier.
Sein Herz klopfte schneller, als er sie entdeckte. Die Zigarette rutschte ihm aus den Fingern und fiel hinunter auf die Straße, so nervös war er plötzlich. Er schloss das Fenster, legte Briketts nach und setzte sich danach an den Küchentisch.
Lange zehn Minuten vergingen, dann erst wurde die Wohnungstür aufgeschlossen und kurz darauf die Küchentür geöffnet. Mit Mütze und Mantel blieb die Hausherrin in der Tür stehen. Aus düsterer Miene musterte sie Heiland.
„Guten Abend, Tante Fine.“Er versuchte zu grinsen und streckte ihr die Zigarettenschachtel hin. „Feierabendzigarette?“Sie reagierte nicht. Schon gestern Abend, während er ihr die Geschichte vom Ehekrach aufgetischt hatte, war ihm ihr kritischer Blick aufgefallen. Jetzt jedoch betrachtete sie ihn kühl und mit unverhohlenem Misstrauen.
Schließlich machte sie kehrt, ging zurück in die Diele und legte Mantel und Mütze ab. Mit einer Zeitung unter dem Arm kam sie zurück, setzte sich ihm gegenüber an den Küchentisch und musterte ihn stumm.
„Was ist los, Tante Fine, haben deine Fahrgäste dich geärgert?“Er zündete sich eine Zigarette an und schob ihr die Schachtel über den Tisch. „Rauch eine mit mir, komm schon!“
„Monika ist vorhin in meine Linie eingestiegen“, sagte seine Tante mit hohler Stimme. „Am Hauptbahnhof, bevor sie zum Putzen ging. Sie hat mir erzählt, dass die Polizei hier gewesen ist.“
Heiland hatte schon mit etwas in der Art gerechnet, denn Josephines Blick hatte nicht Gutes verheißen. „Ja, ich bin da gestern Abend in eine wirklich blöde Sache gestolpert.“Er seufzte und schüttelte den Kopf über so viel Pech. „Im Alten Fritz in Gohlis.“Während er ihr seine neue Geschichte erzählte, schlug sie die Abendausgabe des Leipziger Tageblatts auf. „Die Kerle sind hinter mir her, und wenn ich nicht rennen könnte wie ein Hase, müsstest du mich heute Abend im Hospital besuchen, jede Wette.“Seine Tante knallte die aufgeschlagene Zeitung vor ihn auf den Tisch und deutete auf eine Schlagzeile. Heiland verstummte und las: BLUTBAD IN GOHLIS, DREI TOTE.
Er riss die Zeitung hoch, las noch einmal, las den ganzen Bericht mit bebenden Lippen. Alle Kraft wich ihm aus den Knochen, Stuhl und Tisch schwankten, seine Brust schien sich mit Steinen zu füllen. Er ließ die Zeitung auf den Tisch und die Zigarette in den Ascher fallen, warf sich zurück gegen die Stuhllehne und schlug die Hände vors Gesicht. So saß er eine Weile – die Beine ausgestreckt, das Kreuz durchgedrückt, den Oberkörper steif wie eine Blechtonne, die Kehle zugeschnürt. „O Gott“, stöhnte er, „o Gott, o Gott …“
Josephine König stand auf, trat hinter ihren Neffen, legte die Hände auf seine Schultern und sagte leise: „Rede, Max, erzähl’s mir. Alles.“Die Hände vor seinem Gesicht ballten sich zu Fäusten. „Ich habe nicht geschossen“, flüsterte er. „Ich schwöre es dir, Fine, keinen einzigen Schuss habe ich abgegeben.“