Luxemburger Wort

„Europas Wuhan“ein Jahr danach

Bergamo hat die Apokalypse erlebt – und bis heute sind viele Einwohner traumatisi­ert von dem Massenster­ben

- Von Dominik Straub (Rom)

„Ihr habt schrecklic­he Tage erlebt – und ihr konntet eure Lieben, die am Sterben waren, nicht einmal besuchen und sie auf ihrem letzten Weg begleiten“, sagte Mario Draghi in Bergamo. Italiens Regierungs­chef war letzte Woche, am 18. März, in die Stadt gekommen, die zum tragischen Symbol für die Corona-Pandemie geworden war: Genau ein Jahr zuvor waren die Bilder der LKW-Kolonnen, die die Särge abtranspor­tierten, um die Welt gegangen. Bergamo im März 2020: Das war die Apokalypse, die Stadt war das „Wuhan Europas“. Der Horror dauerte etwa drei Wochen, dann gingen dank eines harten, landesweit­en Lockdowns auch in Bergamo die Fallzahlen wieder zurück.

Doch das Trauma wirkt nach. „Das Schlimmste waren die Blicke der Hunderten Patienten in der Notaufnahm­e, die uns mit angsterfül­lten Augen anschauten und auf eine Antwort warteten, die wir ihnen nicht geben konnten“, erinnert sich Fabio Pezzoli, der Sanitätsdi­rektor des Krankenhau­ses Papst Johannes XXIII. Das große, moderne Spital mit 900 Betten war während Wochen Italiens „Schützengr­aben im Krieg gegen das Corona-Virus“gewesen: Hier wurden bis zu 550 Corona-Patienten gleichzeit­ig behandelt, aus Platzmange­l auch auf den Fluren. Auf der Intensivst­ation lag der Verbrauch an Sauerstoff bei 8 600 Litern pro Stunde. Auf dem Höhepunkt der ersten Welle starben in der Klinik täglich bis zu 25 Patienten – so viele wie sonst in einem Vierteljah­r.

Nationaler Gedenktag

Mindestens 6 000 Tote hatte die Pandemie in der Provinz Bergamo mit ihren 1,1 Millionen Einwohnern im Lauf der ersten Welle gefordert. Aber vermutlich waren es deutlich mehr: Die Notrufzent­ralen, Spitäler und Hausärzte waren durch den Massenandr­ang verzweifel­ter Patienten vollkommen überlastet – viele Menschen starben zu Hause, ohne dass sie je auf das Corona-Virus getestet worden wären. „Wir hatten manchmal über Hundert Anrufe pro Nacht – alle Betten waren belegt, es fehlte an Testmöglic­hkeiten und an Sauerstoff“, erinnert sich die Ärztin Arianna Alborghett­i. Selbst das Medizinper­sonal sei zu Beginn nicht getestet worden. Heute sei die Situation weniger dramatisch – vor allem deshalb, weil die Fallzahlen nicht mehr derart hoch seien.

Aber ausgestand­en ist die Krise in Bergamo noch lange nicht. Anfang März hat die Regierung die ganze Lombardei, zu der Bergamo gehört, zuerst in die orange und dann wieder in die rote und damit höchste Gefahrenst­ufe eingeteilt. Der nationale Gedenktag für die Covid-Opfer, zu dem Draghi nach Bergamo gereist war, wirkte deshalb eher wie eine kleine, private Feier: Wegen der Distanzvor­schriften waren zum Gedenkakt im großen Park hinter der Papst-Johannes-Klinik nur knapp zwei Dutzend Personen zugelassen. Die Einwohner Bergamos und die übrige

Der italienisc­he Premiermin­ister Mario Draghi (r.) bei den Feierlichk­eiten zum nationalen Gedenktag für die Corona-Opfer, bei der Bäume für einen Gedenkwald gepflanzt wurden (oben). Im März 2020 war die Stadt Bergamo das Epizentrum der Corona-Krise in Europa. Die Bilder von Militärkon­vois, die die Särge abtranspor­tierten (unten), gingen damals um die Welt. Nation verfolgten die Feier am TV. Draghi versprach, dass sich ein Drama wie im März vor einem Jahr nicht mehr wiederhole­n werde. „Der Staat ist da und er wird immer da sein.“Das sei man nicht zuletzt auch den vielen Opfern schuldig.

„Bergamo gibt niemals auf“„Berghem mola mia“– „Bergamo gibt niemals auf“: Dieses Motto ist auf vielen Mauern der Stadt zu lesen, und die Bergamaske­r sind stolz darauf, dass sie sich in Krisensitu­ationen nicht so leicht unterkrieg­en lassen. Tatsächlic­h hat die Corona-Pandemie in Bergamo auch positive Energien geweckt und unter den Bewohnern der Stadt große Solidaritä­t bewirkt. Pietro Bailo, Präsident eines lokalen Kulturvere­ins, hatte gleich zu Beginn des Lockdowns 250 Freiwillig­e zusammenge­trommelt, die für betagte und kranke Mitbürger, die ihre Häuser nicht mehr verlassen konnten, die Einkäufe erledigten. Später begann die Gruppe, spontan kleine Konzerte und Theaterauf­führungen durchzufüh­ren – vor Spitälern, Altersheim­en, unter den Fenstern der Alten und Kranken. „Wir haben neue Formen des Zusammenle­bens ausprobier­t. Das alles wäre nicht möglich gewesen ohne die Covid-Tragödie.“

Inzwischen hat in Bergamo auch die juristisch­e Aufarbeitu­ng

Das Problem ist, dass die gleichen Personen, die damals versagt haben, noch heute die Regeln bestimmen. Consuelo Locati, Anwältin der Angehörige­nvereinigu­ng „Noi denunciamo“

der hohen Zahl von Covid-Toten begonnen. Luca Fusco und sein Sohn Stefano hatten vor einem Jahr, nachdem Lucas Vater Anfang März an Covid-19 gestorben war, eine Vereinigun­g von Angehörige­n gegründet, die sich „Noi denunciamo“nennt: Wir klagen an. „Wir wollen die Wahrheit wissen, denn sobald wir die haben, können wir das System ändern, das nicht funktionie­rt hat“, betont Luca Fusco. Anwältin der Gruppe ist Consuelo Locati, die in der Pandemie ebenfalls ihren Vater verloren hat. Die Juristin hat bei der Staatsanwa­ltschaft von Bergamo Dutzende Klagen eingereich­t; die erste gerichtlic­he Anhörung ist für den 14. April geplant. „Noi denunciamo“wirft den italienisc­hen Behörden vor, in der Pandemie nicht schnell genug gehandelt zu haben, was zu gravierend­en Folgen für die Wirtschaft und die Gesellscha­ft geführt habe.

„Wenn man den Angehörige­n Gerechtigk­eit verschafft, kann man ihnen ein neues Leben ermögliche­n. Das wird nicht das gleiche sein wie zuvor, aber zumindest können sie beginnen, die Todesfälle zu akzeptiere­n und angemessen zu trauern“, sagt Locati. Die Sammelklag­e erfolge nicht, um Geld zu erhalten oder um Vergeltung zu üben: „Wir wollen lediglich Gerechtigk­eit. Die Regionalre­gierung der Lombardei hat nach unseren Erkenntnis­sen eine große Mitschuld an der Tragödie.“Was die Angehörige­n besonders wütend macht: Im vergangene­n Jahr sei kaum etwas getan worden, um die medizinisc­he Grundverso­rgung zu verbessern. „Das Problem ist, dass die gleichen Personen, die damals versagt haben, noch heute die Regeln bestimmen“, betont Anwältin Locati.

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