Schmerztabletten statt Nervenkampfstoff
Der russische Kremlkritiker Alexej Nawalny ist offenbar im Straflager ernsthaft erkrankt, auch wenn die Justizbehörden dementieren
Alexej Nawalny habe starke Rückenschmerzen und Lähmungserscheinungen am rechten Bein, er könne nicht mehr auftreten. „Seine Gesundheit ist meiner Ansicht nach in einem äußerst ungünstigen Zustand“, sagte seine Anwältin Olga Michailowa gestern dem Kanal TVDoschd.
Den ganzen Mittwoch hatte die Strafverteidigerin mit ihrem Kollegen Wadim Kobsew vergeblich auf Einlass in das Straflager IK-2 in der Stadt Pokrow gewartet. Erst gestern Nachmittag ließ man beide auf das Anstaltsgelände. „Am Vortag hat man Nawalny in ein Krankenhaus gebracht und dort eine Computertomographie gemacht“, sagte Michailowa hinterher. „Das Ergebnis kennen wir nicht.“Behandelt werde Nawalny nur mit Ibuprofentabletten und –salbe, einem
Schmerzmittel. Seit Tagen herrscht Nervenkrieg um den inhaftierten russischen Oppositionsführer und sein Befinden. Die Pressestelle der russischen Strafvollzugsbehörde FSIN teilte gestern Morgen mit, man habe ihn ärztlich untersucht, sein Gesundheitszustand sei stabil und zufriedenstellend. „Aus der Bullensprache übersetzt: Nawalny liegt im Krankenhaus“, befürchtete danach sein Stabschef Leonid Wolkow auf Facebook.
Laut Anwältin Michailowa klagte Nawalny schon vier Wochen lang über starke Schmerzen, verbat ihr aber, darüber zu sprechen. Seit knapp zwei Wochen befindet er sich im Straflager IK-2, bekannt für strenge Isolation und schikanöse Regeln.
Gestern unterschrieben über 160 meist liberale Prominente, darunter Schauspieler, Regisseure und Chefredakteure, einen offenen Brief an den FSIN-Direktor, die Staatsanwaltschaft und die russische Menschenrechtsbeauftragte, in denen sie Haftbedingungen für Nawalny forderten, die weder sein Leben noch seine Gesundheit gefährdeten. Sie kritisierten auch, dass Nawalny als mutmaßlicher Ausbrecher eingestuft worden sei und darum zur Kontrolle nachts stündlich geweckt werde. Da es in seiner Baracke eine Kamera gebe, sei das überflüssig, verletze auch das Recht des Gefangenen auf acht Stunden ungestörten Schlaf. „Diese Praxis stellt eine psychische Folter dar.“
Der Häftling selbst veröffentlichte gestern in seinem Internetblog eine Beschwerde gegen die Untätigkeit der Justizbeamten angesichts seiner Symptome. Dabei handele es sich um „das typische Krankheitsbild eines eingeklemmten Nervs, der nicht wie nötig behandelt worden ist“.
Aber schon kreisen viele böse Gerüchte. Ein Leser der Internetzeitung fontanka.ru spekuliert in einem Kommentar zu dem offenen Brief schon über neue Mordpläne gegen Nawalny, gegen den im vergangenen August in Tomsk ein Giftanschlag verübt worden war: „Sie fangen wohl wieder an, ihm mit Nowitschok zuzusetzen. Ich befürchte, diesmal reicht ihnen die Zeit, um die richtige Dosis zu finden.“Der Vergiftete war in Deutschland kuriert worden, drei westeuropäische Labore hatten Spuren des russischen Nervenkampfstoffes Nowitschok in Nawalnys Gewebe lokalisiert.
Tödliches Vergessen
Menschenrechtler kritisieren die medizinische Versorgung in Russlands Gefängnissen. „Es mangelt an Fachärzten, Geräten und Arzneien, dabei ist die Lage in jedem Straflager
anders“, sagt Igor Kaljapin, Leiter der nichtkommerziellen Organisation Komitee gegen Folter, unserer Zeitung. „Ein Schwerkranker wird ins FSIN-Hospital transportiert, ein anderer nicht.“Aber während das Schicksal einfacher Häftlinge von ihrem Gefängnisdirektor abhänge, entscheide im Fall Nawalny wohl die FSIN-Spitze gemeinsam mit den Chefs anderer Sicherheitsorgane.
Am Dienstag hatte Nawalnys Team die Website free.navalny.com ins Netz gestellt. Dort können sich alle Russen registrieren, die bereit sind, für Nawalny und die Freiheit zu demonstrieren. Sobald es eine halbe Million sind, will man landesweite Proteste aufrufen. Gegen 16 Uhr wurde gestern die 250 000-Marke überschritten. „All das hilft Nawalny“, sagt Kaljapin. „Einzig das Vergessen ist für ihn tödlich.“