Der rote Judas
72
Holz und Glas splitterten, da stürmte auch schon Edith ins Schlafzimmer. Wie angewurzelt stand sie vor dem Bett und betrachtete die zerbrochenen Bilder, die Glasscherben und die Holz- splitter auf den Kopfkissen und dem Bettvorleger. Irgendwann zog sie eines der Fotos aus den Scherben heraus und hob den Blick – Stainer entdeckte keine Spur von Vorwurf darin, nur Trauer. Sie kam zu ihm und zeigte ihm das Bild, auf dem man sie vor der Elektrischen sah, aus der sie ihm im Frühjahr 1906 buchstäblich in die Arme gestolpert war.
Kraftlos fielen ihr die Hände herunter, und sie ließ sich an seine Brust sinken und lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. Stainer schloss sie in die Arme und hielt sie fest. Eine Zeit lang standen sie so. Und weinten – Stainer lautlos, Edith herzzerreißend laut.
Später, als sie sich ein wenig beruhigt hatten, saßen sie wieder in der Küche, tranken Weißwein und rauchten. „Eugen ist ein gebrochener Mann“, sagte Edith leise.
„Ich weiß, ich habe ihn getroffen.“„Im Zillertal, er hat es mir erzählt.“„Er scheint zu trinken.“
„Eugen hat den Tod seiner Söhne nicht verkraftet, und der Selbstmord
seiner Frau hat ihm dann den Rest gegeben.“
„Seine Frau hat sich umgebracht?“Stainer erschrak. „Das hat er mir nicht erzählt.“
„Laudanum, eine Überdosis. Die Ampullen hat sie ihm in der Klinik gestohlen. Das Einzige, was ihn noch am Leben hält, ist seine Arbeit in der Gynäkologischen Klinik.“Sie seufzte.
„Und ich.“
„Mir kam es vor, als hätte er meinetwegen ein schlechtes Gewissen.“
„Ja, Paul, das hat er.“
Beim Abschied an der Wohnungstür nahm Stainer seine Frau in die Arme und küsste sie. Lange und leidenschaftlich. Bis Edith sich schwer atmend von ihm losmachte und ihn zur Tür hinausschob. „Geh jetzt, Paul. Geh jetzt ganz schnell.“
Er schritt in die Nacht hinaus und trug seinen Koffer und seine Tasche über die abendliche Südstraße hinauf zur Moltkestraße. Die Vorstellung, sich nach dieser Begegnung mit Edith zu hundert Leuten in den Wagen einer Elektrischen zwängen zu müssen, erfüllte ihn mit Grausen.
Die Südstraße war belebt und stark befahren, die Luft roch nach Winter und Braunkohlerauch. Der Wein machte Stainer nichts aus – er ging schnell und ohne zu wanken. Nur Edith machte ihm zu schaffen; er war traurig, wenn er an sie dachte. Und er dachte bei jedem Atemzug an sie.
Dass er sie zurückhaben wollte, wusste er jetzt mit noch größerer
Klarheit als vor dem Besuch. Nur das Wie erschien ihm unklarer denn je. Was, außer Mitleid, verband sie bloß mit diesem Arzt? Was hatte Brand ihr denn gegeben, was gab er ihr noch?
Vor seinem Zeitungsladen bog er nach rechts in die Moltkestraße ab. Auf Höhe des schon völlig dunklen Landgerichts fiel ihm unter den entgegenkommenden Radfahrern ein Uniformierter auf, der zu ihm herübersah, winkte und abstieg. „Herr Kriminalinspektor!»„
Stainer erkannte Kupfers Stimme und überquerte die Straße.
„Ist was passiert?“
„Heiland!“Kupfer schwitzte und war ganz rot im Gesicht.
„Seine Tante hat bei Junghans angerufen, eine Frau König!“Er schnappte nach Luft und stieg vom Rad. „Heiland hat sich bei ihr versteckt.“
Aufmerksam verfolgte Stainer den Bericht seines Oberwachtmeisters. Angeblich wollte diese Frau König mit ihrem Neffen gerade zur Wächterburg aufbrechen, als ein unerwarteter Anruf beim Nachbarn sie aufhielt. Heiland habe dann überstürzt das Haus in der Salomonstraße verlassen und sei zum alten Johannisfriedhof gelaufen.
„Einer seiner Neffen ist hinter ihm hergeschlichen“, erzählte Kupfer. „Daher weiß die Frau das so genau. Und Junghans ist mit dem Fahrrad losgefahren.“„Wohin genau?“
„Johannisplatz und Salomonstraße.“Der Oberwachtmeister zuckte mit den Schultern. „Genaueres weiß ich leider nicht.“
„Haben Sie Beamte zu der Frau geschickt?“
„Noch nicht. Ich dachte: Wozu einen Mannschaftswagen voller Polizei zu einem Mann schicken, der sich sowieso stellen will?“
Stainer schaute ihn nachdenklich an. „Verstehe.“„Ich habe vergeblich versucht, Sie über Fernsprecher zu erreichen, Herr Inspektor“sagte Kupfer, der wohl einen Vorwurf in Stainers Miene las. „a dachte ich: Fahr zu ihm und klopfe. Sie glauben nicht, wie heilfroh ich bin, dass ich Sie doch noch treffe.“„Wie lange ist es her, dass Heilands Familie angerufen hat?“
„Eine halbe Stunde höchstens.“Der Oberwachtmeister schob
Stainer das Rad hin. „Salomonstraße sieben. Treten Sie in die Pedale, Herr Inspektor. Fahren Sie erst in die Wächterburg und nehmen Sie dort den Dux.“Kupfer nahm ihm Koffer und Tasche ab. „Ich fürchte, Sie müssen sich beeilen.“
35
Er mied die breiten Friedhofswege, schlich lieber auf den schmalen, teils überwucherten Pfaden durch die alten Gräberfelder. Max Heiland kannte sich nicht gut aus auf dem Alten Johannisfriedhof, doch wie man von dessen Nordrand zur Trauerhalle an der Hospitalstraße kam, wusste er trotzdem. Manchmal, wenn er wegen der Dunkelheit die Orientierung verlor, blieb er stehen, lauschte und lief dann in die Richtung weiter, aus der er den Verkehrslärm auf der Hospitalstraße oder die Glocken der Johanniskirche hörte. An der Front hatte er gelernt, sich im Niemandsland zwischen den Linien zu orientieren, wo Artilleriegranaten jede Landmarke zertrümmert und untergepflügt hatten. Heiland huschte von Deckung zu Deckung. Er hatte den stillgelegten Friedhof durch den Nordeingang betreten, vom Täubchenweg aus und nicht von Süden her über die Hospitalstraße, wie der Einarmige es am Fernsprecher verlangt hatte.
(Fortsetzung folgt)