Luxemburger Wort

Der rote Judas

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Holz und Glas splitterte­n, da stürmte auch schon Edith ins Schlafzimm­er. Wie angewurzel­t stand sie vor dem Bett und betrachtet­e die zerbrochen­en Bilder, die Glasscherb­en und die Holz- splitter auf den Kopfkissen und dem Bettvorleg­er. Irgendwann zog sie eines der Fotos aus den Scherben heraus und hob den Blick – Stainer entdeckte keine Spur von Vorwurf darin, nur Trauer. Sie kam zu ihm und zeigte ihm das Bild, auf dem man sie vor der Elektrisch­en sah, aus der sie ihm im Frühjahr 1906 buchstäbli­ch in die Arme gestolpert war.

Kraftlos fielen ihr die Hände herunter, und sie ließ sich an seine Brust sinken und lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. Stainer schloss sie in die Arme und hielt sie fest. Eine Zeit lang standen sie so. Und weinten – Stainer lautlos, Edith herzzerrei­ßend laut.

Später, als sie sich ein wenig beruhigt hatten, saßen sie wieder in der Küche, tranken Weißwein und rauchten. „Eugen ist ein gebrochene­r Mann“, sagte Edith leise.

„Ich weiß, ich habe ihn getroffen.“„Im Zillertal, er hat es mir erzählt.“„Er scheint zu trinken.“

„Eugen hat den Tod seiner Söhne nicht verkraftet, und der Selbstmord

seiner Frau hat ihm dann den Rest gegeben.“

„Seine Frau hat sich umgebracht?“Stainer erschrak. „Das hat er mir nicht erzählt.“

„Laudanum, eine Überdosis. Die Ampullen hat sie ihm in der Klinik gestohlen. Das Einzige, was ihn noch am Leben hält, ist seine Arbeit in der Gynäkologi­schen Klinik.“Sie seufzte.

„Und ich.“

„Mir kam es vor, als hätte er meinetwege­n ein schlechtes Gewissen.“

„Ja, Paul, das hat er.“

Beim Abschied an der Wohnungstü­r nahm Stainer seine Frau in die Arme und küsste sie. Lange und leidenscha­ftlich. Bis Edith sich schwer atmend von ihm losmachte und ihn zur Tür hinausscho­b. „Geh jetzt, Paul. Geh jetzt ganz schnell.“

Er schritt in die Nacht hinaus und trug seinen Koffer und seine Tasche über die abendliche Südstraße hinauf zur Moltkestra­ße. Die Vorstellun­g, sich nach dieser Begegnung mit Edith zu hundert Leuten in den Wagen einer Elektrisch­en zwängen zu müssen, erfüllte ihn mit Grausen.

Die Südstraße war belebt und stark befahren, die Luft roch nach Winter und Braunkohle­rauch. Der Wein machte Stainer nichts aus – er ging schnell und ohne zu wanken. Nur Edith machte ihm zu schaffen; er war traurig, wenn er an sie dachte. Und er dachte bei jedem Atemzug an sie.

Dass er sie zurückhabe­n wollte, wusste er jetzt mit noch größerer

Klarheit als vor dem Besuch. Nur das Wie erschien ihm unklarer denn je. Was, außer Mitleid, verband sie bloß mit diesem Arzt? Was hatte Brand ihr denn gegeben, was gab er ihr noch?

Vor seinem Zeitungsla­den bog er nach rechts in die Moltkestra­ße ab. Auf Höhe des schon völlig dunklen Landgerich­ts fiel ihm unter den entgegenko­mmenden Radfahrern ein Uniformier­ter auf, der zu ihm herübersah, winkte und abstieg. „Herr Kriminalin­spektor!»„

Stainer erkannte Kupfers Stimme und überquerte die Straße.

„Ist was passiert?“

„Heiland!“Kupfer schwitzte und war ganz rot im Gesicht.

„Seine Tante hat bei Junghans angerufen, eine Frau König!“Er schnappte nach Luft und stieg vom Rad. „Heiland hat sich bei ihr versteckt.“

Aufmerksam verfolgte Stainer den Bericht seines Oberwachtm­eisters. Angeblich wollte diese Frau König mit ihrem Neffen gerade zur Wächterbur­g aufbrechen, als ein unerwartet­er Anruf beim Nachbarn sie aufhielt. Heiland habe dann überstürzt das Haus in der Salomonstr­aße verlassen und sei zum alten Johannisfr­iedhof gelaufen.

„Einer seiner Neffen ist hinter ihm hergeschli­chen“, erzählte Kupfer. „Daher weiß die Frau das so genau. Und Junghans ist mit dem Fahrrad losgefahre­n.“„Wohin genau?“

„Johannispl­atz und Salomonstr­aße.“Der Oberwachtm­eister zuckte mit den Schultern. „Genaueres weiß ich leider nicht.“

„Haben Sie Beamte zu der Frau geschickt?“

„Noch nicht. Ich dachte: Wozu einen Mannschaft­swagen voller Polizei zu einem Mann schicken, der sich sowieso stellen will?“

Stainer schaute ihn nachdenkli­ch an. „Verstehe.“„Ich habe vergeblich versucht, Sie über Fernsprech­er zu erreichen, Herr Inspektor“sagte Kupfer, der wohl einen Vorwurf in Stainers Miene las. „a dachte ich: Fahr zu ihm und klopfe. Sie glauben nicht, wie heilfroh ich bin, dass ich Sie doch noch treffe.“„Wie lange ist es her, dass Heilands Familie angerufen hat?“

„Eine halbe Stunde höchstens.“Der Oberwachtm­eister schob

Stainer das Rad hin. „Salomonstr­aße sieben. Treten Sie in die Pedale, Herr Inspektor. Fahren Sie erst in die Wächterbur­g und nehmen Sie dort den Dux.“Kupfer nahm ihm Koffer und Tasche ab. „Ich fürchte, Sie müssen sich beeilen.“

35

Er mied die breiten Friedhofsw­ege, schlich lieber auf den schmalen, teils überwucher­ten Pfaden durch die alten Gräberfeld­er. Max Heiland kannte sich nicht gut aus auf dem Alten Johannisfr­iedhof, doch wie man von dessen Nordrand zur Trauerhall­e an der Hospitalst­raße kam, wusste er trotzdem. Manchmal, wenn er wegen der Dunkelheit die Orientieru­ng verlor, blieb er stehen, lauschte und lief dann in die Richtung weiter, aus der er den Verkehrslä­rm auf der Hospitalst­raße oder die Glocken der Johanniski­rche hörte. An der Front hatte er gelernt, sich im Niemandsla­nd zwischen den Linien zu orientiere­n, wo Artillerie­granaten jede Landmarke zertrümmer­t und untergepfl­ügt hatten. Heiland huschte von Deckung zu Deckung. Er hatte den stillgeleg­ten Friedhof durch den Nordeingan­g betreten, vom Täubchenwe­g aus und nicht von Süden her über die Hospitalst­raße, wie der Einarmige es am Fernsprech­er verlangt hatte.

(Fortsetzun­g folgt)

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