Zeitenwende im Land der Eliten
Die Corona-Pandemie führt den Franzosen die Unfähigkeit ihrer Politikerkaste vor Augen
Er fühlte sich unantastbar. Jeden Sommer lud Olivier Duhamel die Pariser Prominenz in sein Feriendomizil in Sanary-sur-Mer am Mittelmeer ein. Drei Häuser und zwei Swimmingpools auf einem großen Grundstück voller Olivenbäume und Pinien. Besucher schildern eine Idylle wie in einem Reiseprospekt, doch hinter der Hochglanzfassade spielte sich ein Drama ab. Hauptdarsteller ist Duhamel selbst.
Der renommierte Verfassungsrechtler und Politologe nimmt für sich die Freiheit der Nach-68er in Anspruch. Nackt springt er in den Pool, in der Küche hängt er ein Foto der Brüste seiner pubertierenden Stieftochter Camille Kouchner auf. „Sanary, der Geruch, das Licht, das Schweigen“, schreibt Kouchner Jahrzehnte später in ihrem Buch „La familia grande“. Auf rund 200 Seiten rechnet die Tochter des früheren Außenministers Bernard Kouchner mit ihren Stiefvater ab, der ihren Zwillingsbruder im Alter von 13 und 14 Jahren missbrauchte. Ein Teil der Ministerinnen, Abgeordneten, Journalistinnen, Professoren und
Philosophen, die Duhamel an der Côte d’Azur empfing, war über das Treiben des ehemaligen Europaabgeordneten informiert. Doch der Gastgeber bildete eine Art Schweigekartell um sich herum und trieb seine Karriere schamlos weiter voran. Mit Erfolg.
2016, als Gerüchte über den Inzest bereits in Pariser Kreisen kursierten, ließ er sich zum Präsidenten der Stiftung wählen, die die einflussreiche Politikhochschule Sciences Po verwaltet. 2020 übernahm er den Vorsitz des Thinktanks Le Siècle, dessen Mitglieder sich wie eine Art Who is Who aus Politik und Wirtschaft lesen.
Das Versagen der Eliten
Doch die Veröffentlichung von Camille Kouchners Buch brachte im Januar die in beiden Institutionen versammelten Eliten gehörig durcheinander. Wie in einem Säurebad legte die 45-jährige Juristin am Beispiel ihres Stiefvaters die verflochtenen Strukturen offen, die die Führungspersönlichkeiten miteinander verbinden. Die Fäden reichen von den „Grandes Écoles“, jenen renommierten Hochschulen, die alle durchlaufen, über die Chefetagen der großen Unternehmen bis hinein in den Elysée.
Duhamel verkörpert das System der französischen Eliten, das eher an die Zeit der Monarchie erinnert als an eine moderne Demokratie. Seine Mitglieder verfolgen mit einem Gefühl der Straflosigkeit
rücksichtslos ihre eigenen Interessen. Jahrzehntelang kamen sie damit durch. So lange das Land auf der Erfolgsspur war, galt Laissezfaire für die Führenden.
Die Stimmung änderte sich erst, als mehrere Präsidenten nacheinander es nicht schafften, die Wirtschaftskrise zu bekämpfen und die Arbeitslosigkeit zu verringern. Die Französinnen und Franzosen erkannten nach und nach die Unfähigkeit einer volksfernen, arroganten Politikerkaste, die ihre Versprechen nicht halten konnte.
Sprengkraft sozialer Netzwerke
Spätestens mit Beginn der Corona-Pandemie wurde das Versagen der Eliten für jeden schmerzlich spürbar. Die in Kaderschmieden ausgebildeten Technokraten waren mit der Aufgabe überfordert, die Bevölkerung mit Masken, Tests oder Impfstoff zu versorgen: Mit mehr als 92 000 Toten gehört Frankreich zu den am meisten betroffenen Ländern. Die Folge ist ein Vertrauensverlust in die Regierenden, der deutlicher ausfällt als anderswo. Die sozialen Netzwerke dienen dabei als Verstärker der Unzufriedenheit. Ihre Sprengkraft hatten Twitter und Facebook bereits 2018 bei den Protesten der Gilets jaunes gezeigt. Ein Facebook-Video hatte den gelben Sturm ausgelöst, der sich gegen „Die da oben“richtete und wochenlang über das Land hinwegfegte. Nur mühsam gelang es Emmanuel Macron, der als „Präsident der Reichen“die Zielscheibe des Hasses war, die Proteste einzudämmen. Er tat das unter anderem mit dem Versprechen, das Symbol der Eliten, die Verwaltungshochschule ENA, abzuschaffen.
Dass Macron seine Zusage inzwischen wieder still und heimlich zurückgenommen hat, könnte ihm spätestens im Wahlkampf nächstes Jahr vorgeworfen werden. Doch auch so hat in Frankreich eine Art Zeitenwende begonnen. Wie in einem heilsamen Häutungsprozess befreit sich das Land langsam von einer verfilzten, korrupten und verlogenen Elite. Und die Justiz ist ein wichtiger Akteur dabei. Im vergangenen Jahr verurteilte ein Gericht den früheren Premierminister François Fillon
Der tiefe Fall des Politologen Olivier Duhamel hat die Diskussion über Eliten befeuert.
zu fünf Jahren Haft, weil er seine Frau jahrelang für ein fürstliches Gehalt nur zum Schein als Parlamentsassistentin beschäftigt hatte.
Ähnlich streng fiel das Urteil Anfang März gegen Nicolas Sarkozy aus, der eine einjährige Freiheitsstrafe mit Fußfessel kassierte. Der Ex-Präsident hatte 2014 nach seinem Ausscheiden aus dem Amt versucht, einen Richter zu bestechen, um an geheime Informationen in einem gegen ihn laufenden Verfahren zu kommen. Er dachte ähnlich wie Duhamel, ihm sei alles erlaubt. „Die Affäre Sarkozy unterscheidet sich stark von der Affäre Duhamel, aber sie zeigt eine Form des Versagens der Eliten“, sagt der Historiker Éric Anceau.
Der Absturz des Patriarchen Duhamel zeigt, dass Netzwerke keine Lebensversicherung mehr sind.
Der soziale Fahrstuhl ist kaputt
Ein solches Versagen wird von den Französinnen und Franzosen immer weniger geduldet. Die Kritik an den Eliten fällt in Frankreich besonders hart aus, weil der Kreis der Entscheider besonders unzugänglich ist. Ausgerechnet im Land der „Égalité“ist der soziale Fahrstuhl kaputt. Wer unten ist, schafft nur über mehrere Generationen den Aufstieg. Und oben bleiben die Eliten unter sich und vermehren sich in einer Art Inzucht untereinander. Die Familie Kouchner-Duhamel ist das beste Beispiel dafür.
Der Absturz ihres Patriarchen zeigt, dass Netzwerke keine Lebensversicherung mehr sind. Duhamels Adressbuch nutzte ihm nämlich zum Schluss nichts mehr. Im Gegenteil. Zusammen mit ihm mussten andere hochrangige Persönlichkeiten zurücktreten. Zum Beispiel der Direktor von Sciences Po, Frédéric Mion.
An seiner Hochschule, einer Art Elitenfabrik, brodelt es seither gewaltig. Rufe nach einer Reform der Verwaltungsstrukturen werden laut: Weg von der Mauschelei um die Posten, hin zu mehr Transparenz. Sciences Po, wo spätere Unternehmenschefs, Journalistinnen und Politiker studieren, könnte damit zum Vorreiter für eine neue Kultur in Frankreich werden: Die einer moralisch einwandfreien Führungselite.
Umdenken hat schon eingesetzt
Das dringend nötige Umdenken hat bereits eingesetzt. Eine Transparenz-Behörde untersucht seit 2013 das Vermögen von Abgeordneten und Regierungsmitgliedern. 2019 musste Umweltminister François de Rugy zurücktreten, weil er als Parlamentspräsident auf Staatskosten ein privates Abendessen mit Hummer und teurem Wein veranstaltet hatte. Ein Zeichen dafür, dass die ethischen Ansprüche gestiegen sind. Männer wie Sarkozy, dem Ambitionen auf eine weitere Präsidentschaftskandidatur nachgesagt wurden, können es nach einer Verurteilung nicht mehr wagen, in die Politik zurückzukehren. Auch Duhamel kann nie wieder ein Amt ausüben. Einsam soll die einstige graue Eminenz der Eliten inzwischen in einer EinZimmer-Wohnung in Paris leben. Als Symbol eines Systems, das sich überlebt hat.
Die Affäre Sarkozy unterscheidet sich stark von der Affäre Duhamel, aber sie zeigt eine Form des Versagens der Eliten. Éric Anceau, Historiker