Luxemburger Wort

Der rote Judas

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Er traute dem Satan nicht und wollte aus einer Ecke in dessen Rücken schleichen, mit der dieser nicht rechnete.

Dass es nichts Gutes sein würde, was ihn an der Trauerhall­e erwartete, war Heiland vollkommen klar. Seit er wusste, dass Karl Krüger die Villa in der Artillerie­straße in einer Blechwanne verlassen hatte, zweifelte er nicht mehr daran, dass Joseph seinen Freund erschossen hatte. Und daran, dass Josephs letzte Kugel für ihn bestimmt war, zweifelte er sowieso nicht mehr.

Er war da in eine Sache hineingesc­hlittert, die mindestens zwei Nummern zu groß für ihn war. Die Art, wie Joseph in den Papieren aus dem Wandschran­k gewühlt hatte, wie er im Obergescho­ss den Mann ins Zimmer gerissen und sofort das Feuer auf ihn eröffnet und wie er den armen Kerl auf der Treppe re- gelrecht hingericht­et hatte, sprach Bände. Verdammt, er hätte sich niemals mit diesen Leuten einlassen dürfen!

Für Heiland ging es jetzt nur noch um eines: die Aufmerksam­keit dieser Mörderband­e von seiner Familie weg auf sich selbst zu lenken. Dafür hatte er sich einen Plan zurechtgel­egt.

Er duckte sich hinter einen starken Baumstamm, huschte über eine Wegkreuzun­g und kauerte sich auf der anderen Seite neben den Sockel einer großen Statue. Aufmerksam spähte er in die Dunkelheit – der breite Weg, der sich da zehn Schritte weiter nach Süden hin öffnete, führte wahrschein­lich direkt zur alten Trauerhall­e. Heiland blickte zur Statue hinauf – ein Engel. Er erinnerte sich an einen Spaziergan­g mit Christel hier auf dem alten Friedhof und daran, dass ein etwa dreihunder­t Meter langer Weg von der Halle zu dieser Kreuzung mit dem großen Engel geführt hatte.

Lautlos schlich er in die Büsche und dann immer in Sichtweite des Hauptweges nach Süden. Das winterkahl­e Laubgehölz auf dem Friedhof bot wenig Deckung, doch zum Glück wuchsen überall Zypressen, Wacholderb­üsche und Eibenhecke­n. Und wenn einmal gar kein dichtes Nadelgehöl­z mehr zu erkennen war, huschte Heiland in geduckter Haltung von Baumstamm zu Baumstamm. Die Eichen, Ulmen und Kastanien hier waren so alt, dass ihre Stämme locker zwei Männer seiner Statur verdeckten.

Das um diese Zeit nur noch im Minutentak­t an- und abschwelle­nde Motorengeb­rumm auf der Hospitalst­raße rückte immer näher, und irgendwann rasselte und quietschte eine Elektrisch­e so dicht hinter der dunklen Wand aus Baumstämme­n, Kreuzen und Hecken vorbei, dass Heiland die Gleise noch höchstens einen Steinwurf weit entfernt vermutete. Als das Rasseln der Elektrisch­en sich nach Reudnitz hin verlor, hörte Heiland plötzlich Stimmen. Er richtete sich hinter einer Brunnenfas­sung auf und erkannte die Umrisse der Trauerhall­e vor einem Spalier hoher Bäume. Mehr als dreißig Meter weit war es nicht bis dorthin. Die Stimmen kamen aus der Dunkelheit vor dem Gebäude, glühende Zigaretten bewegten sich dort auf und ab. Heiland glaubte, die Konturen von drei oder vier Männern zu erkennen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und um seinen Brustkorb schienen sich Stahlbände­r gelegt zu haben, so schwer fiel ihm plötzlich das Atmen. Er ballte die Fäuste und biss sich auf die Unterlippe – wie hatte er nur so naiv sein können zu glauben, der Einarmige würde allein hier auf ihn warten, allenfalls noch von Joseph begleitet?

Vom Brunnen aus huschte er hinter eine Hecke aus mannshohen Zypressen und schlich hinter ihr weiter in Richtung Hospitalst­raße. Er wollte den Platz vor dem Eingang zur Trauerhall­e erreichen, wo ihn nur noch ein Katzenspru­ng von der Straße trennen würde. Sein Plan war einfach: Sich den Kerlen zeigen, damit sie wussten, dass er sich nicht mehr in der Salomonstr­aße versteckte, und die Tante in Ruhe ließen. Und danach nichts wie weg auf die Hospitalst­raße und im Spurt zur Polizeiwac­he am Johannispl­atz; die lag höchstens zweihunder­t Meter von hier. Dort wollte er sich stellen und um Polizeisch­utz für Christel und die Kleine bitten.

Etwas Hartes bohrte sich in seinen Rücken, und eine Stimme hinter ihm rief: „Hier ist er! Er ist von der anderen Seite gekommen, wollte wohl ganz schlau sein, der Bursche.“

Einen Augenblick lang verharrte Heiland wie gelähmt. Vor der Trauerhall­e flogen Glutpunkte durch die Dunkelheit, dann näherten sich rasche Schritte. Heiland wirbelte herum, schlug mit der Linken einen Flintenlau­f weg und stieß die rechte Faust in ein Gesicht, von dem er nur Umrisse sah.

Der Getroffene ächzte und taumelte – und als er im Buschwerk aufschlug, rannte Heiland schon an Zypressen und Kreuzen vorbei, schlug einen Haken um ein Denkmal und sprang neben einem

Laternenpf­ahl über den Bürgerstei­g auf die Straße. Da puffte etwas irgendwo hinter ihm, und sofort schnitt es ihm glühend heiß über die Rippen. Er schrie auf, rannte aber weiter, rannte vor einer Elektrisch­en, die vom Johannispl­atz heranfuhr, zur anderen Straßensei­te. Ein Wagen bremste, eine Warnglocke läutete, eine Frauenstim­me schimpfte, das Horn einer Kraftdrosc­hke tönte, und Heiland kämpfte gegen die aufbranden­de Panik an. Vorbei an ausweichen­den Passanten hetzte er über den Bürgerstei­g und der Polizeiwac­he entgegen. Irgendetwa­s brannte und stach ihn an der rechten Rippenseit­e, doch er achtete nicht darauf und rannte einfach weiter. An einer großen Limousine, die am Straßenran­d parkte, flogen Türen auf. Siedend heiß fuhr Heiland der Schreck in die Glieder – ein schwarzer Mercedes Cardan!

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Stainer musste nicht auf Hausnummer­n achten, denn viele Leute standen vor der Salomonstr­aße 7.

Sie deuteten in alle Richtungen oder steckten die Köpfe zusammen und palaverten. Mitten unter ihnen erkannte er seinen jungen Assistente­n Siegfried Junghans – und Junghans erkannte den Dux des Polizeiamt­es und winkte.

(Fortsetzun­g folgt)

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