Massenproteste in der Türkei
Human Rights Watch: „Erdogan demontiert die Menschenrechte“
Mit Demonstrationen in einem Dutzend türkischen Städten protestierten am Wochenende Zehntausende Menschen gegen den Austritt ihres Landes aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Menschenrechtler appellierten an die Europäische Union, auf die Grundrechtsverletzungen in der Türkei zu reagieren.
„Frauenmorde sind politisch“„Schützt Frauen, nicht Gewalttäter“und „Frauenmorde sind politisch“– mit Sprechchören wie diesen haben Menschen am Samstag in Istanbul, Ankara und mindestens zehn weiteren türkischen Städten gegen ein Dekret protestiert, mit dem Staatschef Recep Tayyip Erdogan eine Woche zuvor die Mitgliedschaft der Türkei in der Istanbul-Konvention aufgekündigt hatte. Veranstalterin der Proteste war die Organisation „Wir werden Frauenmorde stoppen“. Nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen sind in der Türkei im vergangenen Jahr mindestens 408 Frauen ermordet worden. Einer Statistik der Weltgesundheitsorganisation zufolge erfahren 38 Prozent aller türkischen Frauen im Laufe ihres Lebens Gewalt durch ihren Partner.
Die nach dem Ort der Unterzeichnung im Jahr 2011 benannte Übereinkunft des Europarats verpflichtet die Unterzeichner zur Gleichstellung der Geschlechter in ihren Rechtssystemen. Die Staaten sollen körperliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen verfolgen und Hilfsangebote für Frauen verbessern. Die Türkei gehörte 2012 zu den ersten Staaten, die das Abkommen ratifizierten. Politiker der Erdogan-Regierung begründen den Austritt damit, die Konvention
fördere Homosexualität und untergrabe Familienwerte.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) erklärte anlässlich des Austritts, die Türkei demontiere „in einem beispiellosen Ausmaß den Schutz der Menschenrechte“. Die Aufkündigung der Konvention sei ein „tiefgreifender Rückschritt im Kampf für Frauenrechte“, sagte HRW-Direktor Kenneth Roth. Staatschef Erdogan „zielt auf jede Institution oder soziale Gruppe, die seinen Plänen zur Umgestaltung der türkischen Gesellschaft im Wege steht“, so Roth.
Als ein weiteres Beispiel dafür nennt HRW das jetzt eingeleitete Verbotsverfahren gegen die prokurdische Oppositionspartei HDP. Der türkische Generalstaatsanwalt wirft der Partei vor, sie arbeite auf eine „ethnische Spaltung“hin. „Eine Partei zu schließen, die bei der Parlamentswahl 2018 11,7
Prozent der Wählerstimmen und 55 Parlamentsmandate gewonnen hat, ist ein Großangriff auf die politische Meinungs- und Vereinigungsfreiheit“, sagte HRW-Direktor Roth. Mit einem Verbot der HDP verlören sechs Millionen Wähler ihre gewählten Repräsentanten, so Roth.
EU knickt vor Ankara ein
Ungeachtet der Menschenrechtssituation in der Türkei stellten die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem Video-Gipfel am vergangenen Donnerstag dem Land Verhandlungen über die von Ankara geforderte Erweiterung der Zollunion in Aussicht. Human Rights Watch appellierte an die EU, sie dürfe „angesichts der zunehmenden Angriffe der türkischen Regierung auf Kritiker, die parlamentarische Demokratie und Frauenrechte nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“.