Luxemburger Wort

Der rote Judas

- Audi

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Stainer hielt unter der Straßenlat­erne, die ihren Gaslichtsc­hein direkt auf den Eingang des Hauses Nummer 7 warf und auf die Menschentr­aube davor. Er stieg aus, ließ den Motor aber laufen.

„Gott sei Dank!“, rief Junghans und wandte sich an den Menschenau­flauf vor dem Haus. „Das ist Kriminalin­spektor Stainer, mein Chef!“, rief er. „Er wird sich jetzt um die Sache kümmern.“Er klang ernsthaft erleichter­t.

Ungefähr zwei Dutzend Männer, Frauen und Kinder, viele mit bleichen Gesichtern, hatten sich vor der Haustür der Nummer 7 versammelt. Wahrschein­lich Nachbarn und Bekannte der Familie König, vermutete Stainer.

Mit einem Blick erfasste er das hübsche, schwarzhaa­rige Mädchen neben Junghans, die drei traurig dreinblick­enden Knaben daneben und eine zierliche, dunkelhaar­ige Frau in der Uniform der Leipziger Straßenbah­n. Die kenne ich doch, dachte er. Und jetzt fiel der Groschen bei ihm – König, natürlich! Die resolute Straßenbah­nfahrerin Josephine König, die er Anfang der Woche kennengele­rnt hatte und die von vielen Fahrgästen einfach nur Fine gerufen wurde.

„Sie?“Josephine König lief zu ihm und fasste ihn bei den Schultern.

„Sie müssen uns helfen! Mein Neffe ist in Gefahr, das spüre ich. Ich wollte gerade mit ihm zur Wächterbur­g aufbrechen, da kam dieser Anruf.“

„Auf unseren Fernsprech­er!“, rief eine andere Frau. „Den haben wir erst seit Anfang der Woche. Kein Mensch konnte das wissen!“

Stainer erfuhr, was er im Wesentlich­en schon wusste: Heiland war gestern zu später Stunde bei seiner Tante aufgetauch­t und hatte vor einer knappen Stunde nach einem Telefonat fluchtarti­g das Haus verlassen. Dabei habe er ängstlich gewirkt, behauptete­n die einen, er sei wütend gewesen, sagten die anderen.

Das hübsche schwarzhaa­rige Mädchen, das so auffällig nahe bei Junghans stand, schob Heilands ältesten Cousin zu Stainer. Der Junge erzählte atemlos, dass er Max Heiland in den Täubchenwe­g hinterherg­elaufen sei, bis dieser im Alten Johannisfr­iedhof verschwund­en sei.

„Die paar Zeilen hier hat er notiert, bevor er ging, und für mich hinterlass­en.“Junghans streckte ihm einen Briefbogen hin. „Schier unleserlic­h.“

Stainer bedeutete Junghans, in seinen Dux zu steigen, und überflog das Gekritzel im Schein der Gaslaterne, während er zur Fahrerseit­e ging. Von einem Joseph mit schwarzer Lederkappe war in dem kurzen von Fehlern gespickten Brief die Rede, von einem Mercedes Cardan und von einem Einarmigen, der ein Ritterkreu­z I. Klasse am Mantel trug. Mehr war nicht zu entziffern, doch Stainer reichte es. Er steckte den Brief ein, stieg in den Dux und fuhr los.

„Was will Max Heiland auf dem Friedhof, Junghans? Schalten Sie Ihren Denkappara­t ein.“

„Läuft schon auf Hochtouren, Herr Kriminalin­spektor – die Männer treffen, die er auf dem Zettel beschreibt.“

„Die scheinen verdammt viel Ähnlichkei­t mit Murrmanns Mördern zu haben.“Stainer überholte einen Pulk Radfahrer.

„Doch warum will er sie treffen? Er wollte sich doch stellen!“Junghans Antwort kam sofort. „Irgendeine Drohung, irgendeine Gefahr. Nächste Frage, Herr Inspektor.“

„Warum schreibt er Ihnen diesen Zettel, Junghans?“

„Ich bin der einzige Polizist, den er namentlich kennt. Er hat sich nämlich in der Besenkamme­r versteckt gehalten, als ich bei den Königs war, wie mir das Fräulein König verriet.“

„Warum schreibt er diesen Brief, will ich wissen.“Stainer trat auf die Bremse, denn ein kleiner weißer Hund sprang vor ihnen über die Straße.

„Weil er nicht mehr wirklich damit rechnet, seine Aussage noch persönlich machen zu können.“

Die Schlussfol­gerung leuchtete Stainer sofort ein. „Der Alte Johannisfr­iedhof ist nicht riesig, aber auch nicht klein.“

Stainer fuhr über die Dresdner Straße und setzte den Blinker nach links in den Täubchenwe­g. „Wo verabredet man sich da, wenn man sich im Dunkeln nicht verfehlen will?“

„An irgendeine­m Denkmal, irgendeine­m alten Baum, oder gibt’s da nicht eine Kapelle?“

„Eine große Engelsskul­ptur und die alte Trauerhall­e.“Stainer bog ab und gab Gas.

„Wir müssen uns entscheide­n, Herr Inspektor, und ich schlage die Trauerhall­e vor. Zu der gelangen wir aber günstiger über die Hospitalst­raße.“

Stainer bremste scharf, guckte in den Rückspiege­l und riss das Steuer herum. „Warum die Trauerhall­e? Begründung.“Er fuhr zurück zum Johannispl­atz.

„Weil die nach meiner ersten groben Wahrschein­lichkeitsr­echnung mehr Menschen bekannt sein dürfte als ein besonderer Baum oder eine bestimmte Skulptur.“

Junghans stellte also Wahrschein­lichkeitsr­echnungen im Kopf an, der Mann gefiel Stainer immer besser. „Das überzeugt mich. Gute Arbeit, Junghans!“Er fuhr um die Kirche herum und in die Hospitalst­raße hinein. Nur wenig später, auf Höhe des alten Friedhofs, riss er wieder das Steuer herum und parkte den Dux auf der anderen Straßensei­te vor der Häuserzeil­e zwischen Friedhof und Buchhändle­rhaus. Sie stiegen aus und gingen zurück zu den Einmündung­en der Friedhofsw­ege.

„Welcher führt zur alten Trauerhall­e?“, wollte Junghans wissen.

„Der zweite, wenn ich mich recht erinnere.“Stainer musterte den Kommissara­nwärter von der Seite. „Haben Sie den geheimen Polizeiber­icht über die Morde in der Artillerie­straße an die Presse durchgesto­chen?“

Junghans blickte stur geradeaus, doch Stainer sah, wie seine Kaumuskeln arbeiteten. „Keine Sorge, junger Mann, von mir erfährt Kasimir nichts. Ich schätze, der Zeitungsbe­richt wird Heiland erst aus der Deckung gescheucht haben. Was zahlen die Redaktione­n aktuell?“

„Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden, Herr Kriminalin­spektor.“Plötzlich blieb Junghans stehen.

Automobile

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