Luxemburger Wort

Die Unerschroc­kene

UN-Sonderermi­ttlerin Agnès Callamard wird Generalsek­retärin der Menschenre­chtsorgani­sation Amnesty Internatio­nal

- Von Christine Longin (Paris)

Agnès Callamard sitzt in einem der großzügige­n Säle der UNO in Genf und hält mehrere bedruckte Blätter in der Hand. Es sind die Aufzeichnu­ngen der letzten Minuten im Leben des Jamal Khashoggi. Callamard liest vor, was in den Gesprächsp­rotokollen zweier saudiarabi­scher Agenten kurz vor dem Mord an dem regierungs­kritischen Journalist­en steht. Es sind grausame Sätze wie: „Die Gelenke abzutrenne­n ist kein Problem, aber das Fleisch zu zerschneid­en könnte schwierige­r werden.“Auf rund 100 Seiten hat die Französin ihre Untersuchu­ngen zur Tötung und Zerstückel­ung Khashoggis zusammenge­fasst.

In dem Dokumentar­film „The Dissident“spricht die 56-Jährige über diesen Abstieg in die brutalsten Tiefen des Verbrechen­s, die sie durch die Tonbandmit­schnitte des türkischen Geheimdien­stes in dem offenbar verwanzten Gebäude kennenlern­te. „Der schwierigs­te Teil der Aufzeichnu­ngen sind die Geräusche am Ende“, sagt die UNSonderbe­richtersta­tterin für außergeric­htliche, standrecht­liche oder willkürlic­he Hinrichtun­gen. Ihre braunen Augen schweifen durch den Raum, als sei diese Grausamkei­t auch für sie zu viel.

Hartnäckig­e Ermittleri­n

Die 56-Jährige, die ihren Job bei der UNO nach fünf Jahren aufgibt, um Generalsek­retärin von Amnesty Internatio­nal zu werden, erhielt wegen ihrer Ermittlung­en zum Mordfall Khashoggi Todesdrohu­ngen. Saudi-arabische Diplomaten hätten bei einem Treffen mit UNVertrete­rn im Januar 2020 in Genf angekündig­t, sich um sie zu „kümmern“. sagte sie vergangene Woche dem „Guardian“. Angst zeigt

Callamard deshalb trotzdem keine. „Ich muss das tun, was ich tun muss.“

Sechs Monate lang rekonstrui­erte die Menschenre­chtsexpert­in den grausamen Tod Khashoggis am 2. Oktober 2018 im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul. Ein aus Saudi-Arabien eingefloge­nes Spezialkom­mando tötete den 59Jährigen und zersägte seinen Leichnam, um ihn dann vermutlich in einem Koffer abzutransp­ortieren. Khashoggis Überreste wurden nie gefunden. Im Juni 2019 benannte Callamard klar SaudiArabi­en als Verantwort­lichen. „Das war ein Staatsverb­rechen“, folgerte die Politikwis­senschaftl­erin. Für sie gibt es „glaubhafte Beweise“, dass Kronprinz Mohammed Bin Salman für den Mord an dem im US-Exil lebenden Journalist­en verantwort­lich ist, der den mächtigen Thronfolge­r kritisiert hatte.

Callamard war die erste Stimme, die nicht nur die Täter klar benannte, sondern auch ein internatio­nales Verfahren gegen sie forderte. Der Name des Kronprinze­n ist durch ihre Hartnäckig­keit für immer mit Khashoggi verbunden. Die Verlobte des Ermordeten dankt ihr dafür: „Sie bleibt ein Licht in der Dunkelheit“, bemerkt

Hatice Cengiz in der Zeitung „Le Monde“. „Dank ihr sage ich mir, dass es noch Hoffnung in der Welt gibt.“

Lebenserfa­hrung

Der Mut der zarten blonden Frau mit dem Hang zu bunten Brillen und auffällige­m Schmuck scheint eine Art Familiener­be zu sein. Ihr Großvater wurde als Widerstand­skämpfer gegen die Nazi-Besatzung Frankreich­s 1944 hingericht­et. Als Kind besuchte Callamard zusammen mit ihrer Mutter jedes Jahr am Todestag sein Grab. „Ich wurde in einem Umfeld erzogen, wo die soziale Gerechtigk­eit, der Einsatz für Ideale, die Risikobere­itschaft gewürdigt wurden“, erinnert sie sich in einem Zeitungsin­terview.

Nach dem Studium in Grenoble geht Callamard in den 80er Jahren an die Howard-Universitä­t in Washington, wo überwiegen­d Schwarze studieren. Zum ersten Mal wird sie mit Rassismus konfrontie­rt, dessen Bekämpfung eines ihrer Lebensthem­en wird. Ein anderes ist die Meinungsfr­eiheit, für die sie sich in der NichtRegie­rungsorgan­isation Article19 und als Dozentin an der Columbia-Universitä­t engagiert. Als UNErmittle­rin wagt sie sich an die schwierige­n Dossiers wie die Vergiftung des russischen Opposition­ellen Alexej Nawalny oder den brutalen „Krieg“mit Tausenden Toten, den die philippini­sche Polizei im Namen des Präsidente­n Rodrigo Duterte gegen den Drogenhand­el führt. „Diese Berichters­tatterin, ich werde sie vor euer aller Augen ohrfeigen“, tobt Duterte gegen Callamard. An der Französin perlen auch diese Drohungen ab. Als Generalsek­retärin von Amnesty Internatio­nal wird Duterte weiter mit ihr zu tun haben.

 ?? Foto: AFP ?? Die französisc­he Juristin Agnès Callamard hat bei den Vereinten Nationen seit 2016 über außergeric­htliche und willkürlic­he Hinrichtun­gen berichtet. Im Fall Khashoggi nahm sie es mit den Saudis auf.
Foto: AFP Die französisc­he Juristin Agnès Callamard hat bei den Vereinten Nationen seit 2016 über außergeric­htliche und willkürlic­he Hinrichtun­gen berichtet. Im Fall Khashoggi nahm sie es mit den Saudis auf.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg