Die Unerschrockene
UN-Sonderermittlerin Agnès Callamard wird Generalsekretärin der Menschenrechtsorganisation Amnesty International
Agnès Callamard sitzt in einem der großzügigen Säle der UNO in Genf und hält mehrere bedruckte Blätter in der Hand. Es sind die Aufzeichnungen der letzten Minuten im Leben des Jamal Khashoggi. Callamard liest vor, was in den Gesprächsprotokollen zweier saudiarabischer Agenten kurz vor dem Mord an dem regierungskritischen Journalisten steht. Es sind grausame Sätze wie: „Die Gelenke abzutrennen ist kein Problem, aber das Fleisch zu zerschneiden könnte schwieriger werden.“Auf rund 100 Seiten hat die Französin ihre Untersuchungen zur Tötung und Zerstückelung Khashoggis zusammengefasst.
In dem Dokumentarfilm „The Dissident“spricht die 56-Jährige über diesen Abstieg in die brutalsten Tiefen des Verbrechens, die sie durch die Tonbandmitschnitte des türkischen Geheimdienstes in dem offenbar verwanzten Gebäude kennenlernte. „Der schwierigste Teil der Aufzeichnungen sind die Geräusche am Ende“, sagt die UNSonderberichterstatterin für außergerichtliche, standrechtliche oder willkürliche Hinrichtungen. Ihre braunen Augen schweifen durch den Raum, als sei diese Grausamkeit auch für sie zu viel.
Hartnäckige Ermittlerin
Die 56-Jährige, die ihren Job bei der UNO nach fünf Jahren aufgibt, um Generalsekretärin von Amnesty International zu werden, erhielt wegen ihrer Ermittlungen zum Mordfall Khashoggi Todesdrohungen. Saudi-arabische Diplomaten hätten bei einem Treffen mit UNVertretern im Januar 2020 in Genf angekündigt, sich um sie zu „kümmern“. sagte sie vergangene Woche dem „Guardian“. Angst zeigt
Callamard deshalb trotzdem keine. „Ich muss das tun, was ich tun muss.“
Sechs Monate lang rekonstruierte die Menschenrechtsexpertin den grausamen Tod Khashoggis am 2. Oktober 2018 im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul. Ein aus Saudi-Arabien eingeflogenes Spezialkommando tötete den 59Jährigen und zersägte seinen Leichnam, um ihn dann vermutlich in einem Koffer abzutransportieren. Khashoggis Überreste wurden nie gefunden. Im Juni 2019 benannte Callamard klar SaudiArabien als Verantwortlichen. „Das war ein Staatsverbrechen“, folgerte die Politikwissenschaftlerin. Für sie gibt es „glaubhafte Beweise“, dass Kronprinz Mohammed Bin Salman für den Mord an dem im US-Exil lebenden Journalisten verantwortlich ist, der den mächtigen Thronfolger kritisiert hatte.
Callamard war die erste Stimme, die nicht nur die Täter klar benannte, sondern auch ein internationales Verfahren gegen sie forderte. Der Name des Kronprinzen ist durch ihre Hartnäckigkeit für immer mit Khashoggi verbunden. Die Verlobte des Ermordeten dankt ihr dafür: „Sie bleibt ein Licht in der Dunkelheit“, bemerkt
Hatice Cengiz in der Zeitung „Le Monde“. „Dank ihr sage ich mir, dass es noch Hoffnung in der Welt gibt.“
Lebenserfahrung
Der Mut der zarten blonden Frau mit dem Hang zu bunten Brillen und auffälligem Schmuck scheint eine Art Familienerbe zu sein. Ihr Großvater wurde als Widerstandskämpfer gegen die Nazi-Besatzung Frankreichs 1944 hingerichtet. Als Kind besuchte Callamard zusammen mit ihrer Mutter jedes Jahr am Todestag sein Grab. „Ich wurde in einem Umfeld erzogen, wo die soziale Gerechtigkeit, der Einsatz für Ideale, die Risikobereitschaft gewürdigt wurden“, erinnert sie sich in einem Zeitungsinterview.
Nach dem Studium in Grenoble geht Callamard in den 80er Jahren an die Howard-Universität in Washington, wo überwiegend Schwarze studieren. Zum ersten Mal wird sie mit Rassismus konfrontiert, dessen Bekämpfung eines ihrer Lebensthemen wird. Ein anderes ist die Meinungsfreiheit, für die sie sich in der NichtRegierungsorganisation Article19 und als Dozentin an der Columbia-Universität engagiert. Als UNErmittlerin wagt sie sich an die schwierigen Dossiers wie die Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny oder den brutalen „Krieg“mit Tausenden Toten, den die philippinische Polizei im Namen des Präsidenten Rodrigo Duterte gegen den Drogenhandel führt. „Diese Berichterstatterin, ich werde sie vor euer aller Augen ohrfeigen“, tobt Duterte gegen Callamard. An der Französin perlen auch diese Drohungen ab. Als Generalsekretärin von Amnesty International wird Duterte weiter mit ihr zu tun haben.