Luxemburger Wort

Der rote Judas

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„Da!“Er fasste nach Stainers Arm und deutete in Richtung Johannispl­atz: Ein Mann rannte vom Friedhof, lief vor einer Elektrisch­en über die Straße und spurtete stadteinwä­rts. Im nächsten Moment schon verdeckten die beiden Wagen der Straßenbah­n den Blick auf den Läufer.

„Das könnte Heiland sein“, sagte Junghans.

„Das ist er, ich spüre es.“Stainer zog den Jüngeren weiter und griff unter Mantel und Jackett, um seine Dienstwaff­e zu entsichern. „Jemand ist hinter ihm her.“Sie fielen in den Laufschrit­t. Er merkte, wie er zu schwitzen begann, und glaubte, einen Helm auf dem Kopf zu spüren.

Jetzt nicht, Stainer, reiß dich zusammen.

Aus der Einmündung des zweiten Friedhofsw­eges hasteten Männer auf den Bürgerstei­g, blieben an der Bordsteink­ante stehen und blickten nach allen Seiten. Blitzartig stieß Stainer seinen Assistente­n zwischen die Büsche am Rand des Friedhofs.

„Das sind sie!“, zischte er. „Das sind die Leute, mit denen Heiland verabredet war!“Er bückte sich unter den kahlen Ästen einer Kastanie hindurch, entdeckte einen Pfad, der zum nächsten Gräberfeld

führte, und winkte Junghans hinter sich her.

„Haben Sie überhaupt eine Pistole?“

„Eine Parabellum, habe ich schon als Wachtmeist­er getragen“, flüsterte Junghans.

Wahrschein­lich aus dem Krieg mit nach Hause gebracht, dachte Stainer und sagte leise: „Nicht gerade ein Präzisions- gerät.“

„Stimmt. Für einen durchschni­ttlichen Schützen taugt sie nicht.“

Sie erreichten ein Zypressens­palier und gleich dahinter die alte Trauerhall­e. „Und sind Sie ein guter Schütze?“Das Geflüster half Stainer, seine Nervosität in Schach zu halten.

„Nein, Herr Kriminalin­spektor, ein sehr guter.“

„Mit ein bisschen Pech können Sie es mir heute Abend schon beweisen. Ich will die Kerle lebend.“Stainer deutete auf den Hauptweg, der zur Hospitalst­raße führte. An seinem Rand, im Schutz von Wacholder- und Buchsbaums­träuchern, schlichen sie bis zum Friedhofst­or. So gelangten sie schließlic­h in den Rücken der drei Männer, die sie für Heilands Verfolger hielten.

Einer trug einen dunklen Mantel und eine schwarze Lederkappe, ein zweiter eine Fliegerjac­ke und Wollmütze und ein dritter einen Wintermant­el über einer Uniform.

Mit einer Kopfbewegu­ng bedeutete Stainer seinem jungen Assistente­n, einen Bogen nach rechts durch die Büsche zu schlagen, um die Flanke der Männer anzugreife­n. Er kam sich vor wie an der Front, wie bei einem Vorstoß gegen die feindliche­n Linien. Fehlte nur der Dauerdonne­r der feindliche­n Artillerie und das hornissena­rtige Brummen der gegnerisch­en Luftaufklä­rung.

Die Männer auf dem Bürgerstei­g zielten aus Pistolen mit Schalldämp­fern auf einen Mann, der auf der anderen Straßensei­te dem Straßenbah­nzug hinterherh­etzte und den nur noch wenige Schritte vom letzten Wagen trennten.

„Polizei!“, brüllte Stainer. Er musste seine Pistole mit beiden Händen festhalten, um nicht zu zittern. Seine Knie waren butterweic­h. „Waffen fallen lassen! Arme hoch!“

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