Der Bulle von Bulgarien
Das ärmste EU-Land wählt inmitten der dritten Corona-Welle ein neues Parlament und im Herbst einen Präsidenten
Mitten in der heißen Phase des Wahlkampfs hat Premierminister Boiko Borissow seinem Land eine Abkühlung verordnet: Einen Lockdown. Seit Montag der Vorwoche war alles zu. Lange hatte die Regierung Borissows gezögert. Lange war nichts passiert. Lange hatte man der Pandemie zugesehen und noch eher Öffnungen als Schließungen in Aussicht gestellt. Nach zehn Tagen Lockdown gab es am Donnerstag nun Erleichterungen: Restaurants und Handel öffneten wieder. Und unter diesen Vorzeichen wird am Sonntag ein neues Parlament gewählt. Wahlen unter in vielerlei Hinsicht neuen Bedingungen – aber einer Konstanten: Premier Boiko Borissow.
Der bewirbt sich am kommenden Sonntag um seine vierte Amtszeit. Und auch wenn es dem Bullen von Bulgarien zuletzt an allen Seiten kalt reingeregnet hatte – Pandemie-Management, Impfungen, Korruption, Proteste: Ein Wahlsieg Borissows ist wahrscheinlich. Seine GERB führt in Umfragen. Bulgarien steckt fest in einem Machtkampf zwischen Alphamännchen: Auf der einen Seite Borissow mit seiner konservativbis rechtspopulistischen GERB, auf der anderen der aus der sozialistischen Partei kommende Staatspräsident Rumen Radew. Und dazwischen: Eine nach den Protesten im vergangenen Sommer aufblühende aber ebenso zersplitterte neue Opposition.
Schlagabtausch in zwei Akten nach Massenprotesten im Sommer Die Wahl ist jedenfalls der erste Teil eines Schlagabtauschs in zwei Akten: Am Sonntag das Parlament und im kommenden Herbst die Präsidentenwahlen. Auf diesen Abtausch steuert seit vergangenem Sommer alles hin. Seit fast einem Jahr befindet sich das Land im Wahlkampf. Und die Massenproteste im vergangenen Sommer, die nahezu die Dimension eines Aufstandes gegen Borissow angenommen hatte, könnten dem Premierminister jetzt viel eher helfen als schaden.
Die Journalistin Mila Cherneva sagt zu dieser neuen Unbekannten im bulgarischen Politik-Gefüge: „Da ist diese Kombination aus politischen Skandalen und den Protesten im vergangenen Sommer, die ein unglaublich aktives Umfeld geschaffen hat – vor allem in Anbetracht einer zuvor vergleichsweise schwachen Zivilgesellschaft.“
So eindrucksvoll die Allianz aus Progressiven und Konservativen, aus Linken wie Rechten aber auch war: Der Protestbewegung hat es nur in Ansätzen geschafft, diesen Geist in parteipolitische Gefäße zu gießen. Zwei der Protestbewegung vom Sommer 2020 nahestehende Parteien haben Chancen am Sonntag: die bürgerliche Drei-Parteien-Bewegung „Demokratisches Bulgarien“und die „Steh auf“. Aber: Sie graben eher der etablierten Opposition das Wasser ab, als der GERB. Und so ist die Wahl in Bulgarien ein Rennen zwischen der GERB und den Sozialisten. Und die große Unbekannte ist nicht der Unmut in der Bevölkerung über Nepotismus, Missmanagement oder zunehmend autoritäre Anwandlungen des Premiers – sondern viel eher die Wahlbeteiligung.
Die Wahlbeteiligung: die große Unbekannte
Mila Cherneva spricht von einer wie selten zuvor politisierten Gesellschaft und einem Wahlkampf, der an Intensität, an Wettbewerb zwischen vielen neuen Spielern nichts hat vermissen lassen. Sie sagt: Fände diese Wahl unter normalen Umständen statt, gebe es wohl eine Rekordbeteiligung. Und eine solche könnte der GERB auch echt zusetzen, so die Einschätzung vieler.
Die Umstände aber und vor allem die über den Wahltag geltenden Quarantäne-Maßnahmen schaffen anderen Voraussetzungen: Und so vermuten Gegner des Premierministers hinter nach wie vor geltenden Einschränkungen nicht zuletzt auch wahltaktisches Kalkül und einen Versuch, ältere Wähler von den Urnen fern zu halten. Denn die tendieren zu den Sozialisten. Mila Cherneva macht „verstörende Aspekte“aus und spricht von einer „verwirrenden Rechtslage“. Vielen Leuten sei es aufgrund von Quarantäne-Regeln nicht erlaubt, das Haus zu verlassen. Die Organisation der Wahl beschreibt sie als „chaotisch“.
Was Bulgarien damit bevorsteht, sind weiterhin konfliktträchtige Zeiten. Die Pandemie, die politische Instabilität, ein mitten im Wahlkampf aufgeflogener russischer Spionagering. Dass der GERB am Sonntag der aktuelle Koalitionspartner, die nationalistische „Vereinigte Patrioten“, abhanden kommen könnte, fällt dabei wenig ins Gewicht.