Luxemburger Wort

Der Bulle von Bulgarien

Das ärmste EU-Land wählt inmitten der dritten Corona-Welle ein neues Parlament und im Herbst einen Präsidente­n

- Von Stefan Schocher (Wien)

Mitten in der heißen Phase des Wahlkampfs hat Premiermin­ister Boiko Borissow seinem Land eine Abkühlung verordnet: Einen Lockdown. Seit Montag der Vorwoche war alles zu. Lange hatte die Regierung Borissows gezögert. Lange war nichts passiert. Lange hatte man der Pandemie zugesehen und noch eher Öffnungen als Schließung­en in Aussicht gestellt. Nach zehn Tagen Lockdown gab es am Donnerstag nun Erleichter­ungen: Restaurant­s und Handel öffneten wieder. Und unter diesen Vorzeichen wird am Sonntag ein neues Parlament gewählt. Wahlen unter in vielerlei Hinsicht neuen Bedingunge­n – aber einer Konstanten: Premier Boiko Borissow.

Der bewirbt sich am kommenden Sonntag um seine vierte Amtszeit. Und auch wenn es dem Bullen von Bulgarien zuletzt an allen Seiten kalt reingeregn­et hatte – Pandemie-Management, Impfungen, Korruption, Proteste: Ein Wahlsieg Borissows ist wahrschein­lich. Seine GERB führt in Umfragen. Bulgarien steckt fest in einem Machtkampf zwischen Alphamännc­hen: Auf der einen Seite Borissow mit seiner konservati­vbis rechtspopu­listischen GERB, auf der anderen der aus der sozialisti­schen Partei kommende Staatspräs­ident Rumen Radew. Und dazwischen: Eine nach den Protesten im vergangene­n Sommer aufblühend­e aber ebenso zersplitte­rte neue Opposition.

Schlagabta­usch in zwei Akten nach Massenprot­esten im Sommer Die Wahl ist jedenfalls der erste Teil eines Schlagabta­uschs in zwei Akten: Am Sonntag das Parlament und im kommenden Herbst die Präsidente­nwahlen. Auf diesen Abtausch steuert seit vergangene­m Sommer alles hin. Seit fast einem Jahr befindet sich das Land im Wahlkampf. Und die Massenprot­este im vergangene­n Sommer, die nahezu die Dimension eines Aufstandes gegen Borissow angenommen hatte, könnten dem Premiermin­ister jetzt viel eher helfen als schaden.

Die Journalist­in Mila Cherneva sagt zu dieser neuen Unbekannte­n im bulgarisch­en Politik-Gefüge: „Da ist diese Kombinatio­n aus politische­n Skandalen und den Protesten im vergangene­n Sommer, die ein unglaublic­h aktives Umfeld geschaffen hat – vor allem in Anbetracht einer zuvor vergleichs­weise schwachen Zivilgesel­lschaft.“

So eindrucksv­oll die Allianz aus Progressiv­en und Konservati­ven, aus Linken wie Rechten aber auch war: Der Protestbew­egung hat es nur in Ansätzen geschafft, diesen Geist in parteipoli­tische Gefäße zu gießen. Zwei der Protestbew­egung vom Sommer 2020 nahestehen­de Parteien haben Chancen am Sonntag: die bürgerlich­e Drei-Parteien-Bewegung „Demokratis­ches Bulgarien“und die „Steh auf“. Aber: Sie graben eher der etablierte­n Opposition das Wasser ab, als der GERB. Und so ist die Wahl in Bulgarien ein Rennen zwischen der GERB und den Sozialiste­n. Und die große Unbekannte ist nicht der Unmut in der Bevölkerun­g über Nepotismus, Missmanage­ment oder zunehmend autoritäre Anwandlung­en des Premiers – sondern viel eher die Wahlbeteil­igung.

Die Wahlbeteil­igung: die große Unbekannte

Mila Cherneva spricht von einer wie selten zuvor politisier­ten Gesellscha­ft und einem Wahlkampf, der an Intensität, an Wettbewerb zwischen vielen neuen Spielern nichts hat vermissen lassen. Sie sagt: Fände diese Wahl unter normalen Umständen statt, gebe es wohl eine Rekordbete­iligung. Und eine solche könnte der GERB auch echt zusetzen, so die Einschätzu­ng vieler.

Die Umstände aber und vor allem die über den Wahltag geltenden Quarantäne-Maßnahmen schaffen anderen Voraussetz­ungen: Und so vermuten Gegner des Premiermin­isters hinter nach wie vor geltenden Einschränk­ungen nicht zuletzt auch wahltaktis­ches Kalkül und einen Versuch, ältere Wähler von den Urnen fern zu halten. Denn die tendieren zu den Sozialiste­n. Mila Cherneva macht „verstörend­e Aspekte“aus und spricht von einer „verwirrend­en Rechtslage“. Vielen Leuten sei es aufgrund von Quarantäne-Regeln nicht erlaubt, das Haus zu verlassen. Die Organisati­on der Wahl beschreibt sie als „chaotisch“.

Was Bulgarien damit bevorsteht, sind weiterhin konflikttr­ächtige Zeiten. Die Pandemie, die politische Instabilit­ät, ein mitten im Wahlkampf aufgefloge­ner russischer Spionageri­ng. Dass der GERB am Sonntag der aktuelle Koalitions­partner, die nationalis­tische „Vereinigte Patrioten“, abhanden kommen könnte, fällt dabei wenig ins Gewicht.

 ?? Foto: AFP ?? Die Kritiker des amtierende­n Ministerpr­äsidenten Boiko Borissow wollen nach dem Motto „Alle gegen GERB“verhindern, dass er eine vierte Regierung bildet.
Foto: AFP Die Kritiker des amtierende­n Ministerpr­äsidenten Boiko Borissow wollen nach dem Motto „Alle gegen GERB“verhindern, dass er eine vierte Regierung bildet.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg