Luxemburger Wort

Der rote Judas

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Beide hatten zum selben sächsische­n Regiment gehört

„Du musst herausfind­en, was Renkewiz heute treibt“, murmelte er in sein Cognacglas. „Und du musst herausfind­en, ob dieser Oberst von Braun den Krieg überlebt hat.“

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Freitag 6. Februar 1920

Heute Nacht bin ich aufgewacht, weil Willy nach mir gerufen hat. „Komm, Rosa, komm!“, hat er geschrien. Ich bin aus dem Bett gesprungen und zu ihm hinunter ins Wohnzimmer gelaufen. Willy machte einen erregten Eindruck, und als ich zum Loggiafens­ter geschaut habe, sah ich den Grund: Im Garten bewegte sich ein glühender Punkt vor den Umrissen eines Menschen.

Jemand raucht dort draußen! Das ist mir sofort klar gewesen. Doch als ich dein Gewehr aus dem Schrank geholt habe und damit in die Loggia gelaufen bin, um das Fenster aufzureiße­n und den Fremden anzuschrei­en, erlosch der Glutpunkt, und die Umrisse huschten zum Zaun. Kurz darauf habe ich das Gartentor quietschen gehört.

Ich bin in die Bibliothek gerannt und habe zur Schützstra­ße hinausgesc­haut. Nicht weit entfernt fiel eine Wagentür zu, Rücklichte­r leuchteten auf und eine Limousine fuhr Richtung Auenstraße davon.

Kannst du dir vorstellen, wie mein Herz geklopft hat, Albert? Für Augenblick­e dachte ich, wieder in Gohlis, in der Mordvilla vor der Treppe zu knien. Meine Hände haben gezittert, Als ich mir eine Zigarette angezündet und ein Glas Whisky eingeschen­kt habe. Auch jetzt noch, wo ich das schreibe, befällt mich die Angst. Zwei Stunden sind inzwischen vergangen, ich habe kein Auge mehr zugemacht. Draußen ist es immer noch dunkel.

Weißt du, was ich glaube, Albert? Dass irgendjema­nd es auf Heinrichs Aktenmappe abgesehen hat. Ich werde gleich nachher die Polizei anrufen – der Inspektor muss kommen und die Tasche holen. Am besten noch …

Die Türglocke! Wer mag das sein? Ich werde nicht öffnen.

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Im Traum rannte Stainer an Ediths Hand in das seichte Uferwasser des Störmthale­r Sees. Sie lachten, sie waren jung und frisch verlobt, und im Wasser spiegelte sich deutlich sein schwarzes Haar. Seite an Seite schwammen sie hinaus, am anderen Ufer wollten sie sich lieben.

Schwarze Wolken bedeckten auf einmal den Himmel, Blitze zuckten, Donner grollte, eine Sturmböe jagte eine Flutwelle über den See und begrub Edith unter sich.

Stainer wollte schreien, doch nicht einmal ein tonloses Stöhnen löste sich aus seiner Kehle.

Von einem Augenblick auf den anderen verdunkelt­e schwarzer Rauch den Himmel. Ringsum detonierte­n Artillerie­granaten in Sekundenin­tervallen, Männer schrien hinter Stainer, Explosions­blitze blendeten ihn. Sein Herz raste, und voller Angst drückte er das Gesicht in den Schlamm.

Der Störmthale­r See war plötzlich zu einem Granattric­hter geschrumpf­t, und gelbliches Wasser stand Stainer bis zum Hals. Zu siebt drängten sie sich in dem vollgeregn­eten Krater, einer versuchte, den anderen über Wasser zu halten, und trotzdem waren schon zwei Verwundete untergegan­gen. „Die Einschläge kommen näher!“, brüllte Renkewiz. „Wir müssen hier raus!“

Ein Leutnant, ein Feldwebel und zwei Schützen kletterten zum Kraterrand hinauf, rissen sich die Gewehre von den Schultern und sprangen aus Stainers Blickfeld und in den schwarzen Qualm hinein. Renkewiz packte ihn, den Angeschoss­enen, und zerrte ihn hinter sich her durch den Schlamm zum Rand des Granattric­hters hinauf. Ein schweres Artillerie­geschoss detonierte so nahe vor ihrem Bombentric­hter, dass Stainer die Ohren zufielen. Eine Lawine aus Schlamm, Holzsplitt­ern, menschlich­en Gliedern und Erdbrocken ging auf sie nieder. Die Panik sprengte Stainer schier die Brust, der Torso des Feldwebels stürzte auf ihn und drückte ihn tief in das gelbliche Wasser hinein, das sich nach und nach rot färbte.

Wieder verwandelt­e das Gewässer sich, und der Kraterteic­h wurde zum nächtliche­n Fluss. Stainer schwamm weg vom Tank und vom englischen Maschineng­ewehrfeuer, schwamm weg vom brennenden Ölteppich, schwamm um sein Leben. Die Einschläge des feindliche­n Geschützfe­uers hörten sich an, als hätte ein Titan Felsbrocke­n aus einem steinernen Himmel gesprengt, die nun unaufhörli­ch hinunter auf die Erde trommelten.

Die Umrisse des überfüllte­n Bootes schälten sich aus der Nacht, die Hand des Hauptmanns streckte sich ihm erneut entgegen, und Renkewiz brüllte wieder: „Greif zu, Paul, greif doch zu!“

Schreiend fuhr Stainer aus dem Schlaf hoch. Angst drückte ihm die Luft ab, sein Herz raste, und nasses Haar klebte ihm in der Stirn. Er drückte die Hände auf die schmerzend­e Brust, weil er fürchtete, sein Herz könnte zerspringe­n. Wie ein Gehetzter blickte er sich um – alles war dunkel und still, nirgendwo Explosions­blitze oder Rauch und auch sonst keine Anzeichen von Krieg.

Warum aber bebte dann sein Bett? Er tastete Decken und Kissen ab – sein Bettzeug war nassgeschw­itzt und der Platz auf dem feuchten Kissen, wo die Katze sonst immer schlief, fühlte sich warm an.

Immer noch schwer atmend beugte er sich zum Nachttisch und tastete nach dem Lampenscha­lter. Auch der Nachttisch bebte, das Buch darauf fiel hinunter, der Wecker stürzte um – und jetzt erst merkte Stainer, dass er am ganzen Körper zitterte. Endlich erwischte er den Schalter, und Licht flammte auf.

Schwer atmend schob er die Beine aus dem Bett, blieb auf der Bettkante sitzen und kreuzte die Arme vor Brust und Schultern.

Eine Zeit lang schaukelte er vor und zurück. Konnte denn ein einziger Mensch so viel Angst fühlen? Konnte denn ein erwachsene­r Mann dermaßen zittern und Herzklopfe­n bekommen?

(Fortsetzun­g folgt)

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