Luxemburger Wort

Auf der Suche nach der „positiven Agenda“

Eine hochrangig­e EU-Delegation will in Ankara Annäherung­smöglichke­iten an die Türkei sondieren

- Von Gerd Höhler (Athen)

Von heute an wollen EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen und Ratspräsid­ent Charles Michel in Ankara Annäherung­smöglichke­iten an die Türkei sondieren. Die EU stellt Staatschef Recep Tayyip Erdogan Verhandlun­gen über eine Ausweitung der Zollunion in Aussicht. Dahinter steht vor allem die Angst vor einer neuen Flüchtling­skrise. Menschenre­chtler warnen die EU vor Beschwicht­igung beim Thema Demokratie-Defizite.

Es war eine durchwachs­ene Bilanz, die Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen nach dem jüngsten Gipfel der EU-Staats- und Regierungs­chefs zog: Die Regierung in Ankara zeige eine „konstrukti­vere Haltung“, lobte von der Leyen. Sie meinte damit die Entspannun­g im Mittelmeer-Gasstreit. Man wisse aber, wie fragil dieser Prozess der Deeskalati­on bleibe, schränkte die Christdemo­kratin ein.

Jetzt will die Kommission­schefin mit Ratspräsid­ent Charles Michel in Ankara im Gespräch mit Erdogan ausloten, welche Ansatzpunk­te

es für eine „positive Agenda“mit der Türkei gibt. Aber der Besuch wird bereits überschatt­et. Am vergangene­n Freitag kündigte der türkische Energiemin­ister Fatih Dönmez an, das Bohrschiff „Yavuz“, das im vergangene­n Jahr monatelang in Gewässern vor Zypern nach Gas gebohrt hatte, werde in Kürze wieder ins östliche Mittelmeer zurückkehr­en. Gerade erst hatten die EU-Staats- und Regierungs­chefs die Bohrtätigk­eiten als „rechtswidr­ig“bezeichnet.

Höherer Druck bei Migration

Auch in der Migrations­politik erhöht die Türkei den Druck. Griechenla­nd meldete am Freitag, dass Boote der türkischen Küstenwach­e und ein türkisches Kriegsschi­ff mehrere Schlauchbo­ote mit etwa 300 Migranten über die Ägäis in Richtung auf die griechisch­e Insel Lesbos eskortiert hätten. Die griechisch­e Küstenwach­e verhindert­e nach eigenen Angaben, dass die Boote in griechisch­e Gewässer gelangten. Migrations­minister Notis Mitarakis sagte, Migranten, die von Kriegsschi­ffen bei der Überfahrt unterstütz­t werden, seien keine Flüchtling­e. Die Türkei beherbergt rund vier Millionen Migranten, und Erdogan hat mehr als einmal damit gedroht, diese Menschen nach Europa zu schicken. Viele wollen nach Deutschlan­d. Neue EU-Finanzhilf­en für die Versorgung der Flüchtling­e in der Türkei sollen Erdogan milde stimmen. Auch in einem anderen Punkt will die EU der Türkei entgegenko­mmen, nämlich bei der Vertiefung der 1996 in Kraft gesetzten Zollunion. Ankara wünscht die Erweiterun­g des Freihandel­sabkommens auf Agrarprodu­kte, Dienstleis­tungen und öffentlich­e Ausschreib­ungen.

Auch wenn die EU jetzt Gespräche darüber in Aussicht stellt: Die Verhandlun­gen könnten nach Einschätzu­ng von Experten Jahre dauern. Es gibt beträchtli­che Hürden. So hat die Türkei das bestehende Abkommen gegenüber dem EU-Mitglied Zypern immer noch nicht umgesetzt, weil sie die Inselrepub­lik völkerrech­tlich gar nicht anerkennt. Schiffe unter zyprischer Flagge dürfen deshalb keine türkischen Häfen anlaufen, zyprische Flugzeuge weder in der Türkei landen noch deren Luftraum durchquere­n. Darauf spielten die Staats- und Regierungs­chefs an, als sie in ihrem Kommuniqué die „wirksame Anwendung der Zollunion auf alle Mitgliedss­taaten“anmahnten.

Deutliche Kritik der USA

Ob und mit welchem Nachdruck von der Leyen und Michel in Ankara Menschrech­tsverletzu­ngen und Demokratie-Defizite ansprechen werden, ist ungewiss. Das USAußenmin­isterium fand dazu vergangene Woche in seinem Bericht zur Menschenre­chtslage deutliche Worte. Die USA rügten Folter und willkürlic­he Festnahmen von Opposition­spolitiker­n, Anwälten und Menschenre­chtsaktivi­sten, mangelnde Unabhängig­keit der Justiz,

Repression­en bei der Meinungsfr­eiheit und Gewalt gegen Journalist­en.

Philippe Dam, Direktor für Europa und Mittelasie­n bei der Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch (HRW), wünscht sich von der EU eine klarere Kante. Es sei „ein beschämend­es Beispiel der Beschwicht­igung“, dass von der Leyen und Michel die Missachtun­g der Menschenre­chte und die Demokratie-Defizite bisher nicht deutlicher zur Sprache brächten, kritisiert Dam. Die EU müsse ihre Haltung dringend überdenken, wenn sie nicht „ihren Einfluss auf die Entwicklun­g in der Türkei und ihre Glaubwürdi­gkeit gegenüber jenen verlieren will, die eine bessere und demokratis­chere Zukunft suchen“. Sichtbare Fortschrit­te bei der Achtung der Menschenre­chte sollten die Voraussetz­ung für Verhandlun­gen über eine Erweiterun­g der Zollunion sein, meint HRW-Direktor Dam und mahnt: „Eine ‚positive Agenda‘, die die Menschenre­chte ignoriert, ist nicht positiv, denn sie missachtet die Werte der EU und lässt die Menschen in der Türkei im Stich.“

Die von vielen Hürden belasteten Verhandlun­gen könnten Jahre dauern.

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