Chaos statt Strategie
Die Deutschen verzweifeln an der Pandemiepolitik der Regierenden
Der Osterdienstag in Deutschland kann mit einem Anruf beginnen, „Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?“– und am anderen Ende sagt eine männliche Stimme, nun sei es genug. Sagt ist nicht ganz korrekt; in Wirklichkeit testet die Stimme ihr Phonpotenzial aus. Und ehe eine Nachfrage bezüglich des „genug“möglich ist – geht es um „die Politik“und „die Polizei“und um alles, was zwischen Karfreitag und Ostermontag in Sachen Pandemie in den deutschen Nachrichten war. Das ist eine ziemliche Menge gewesen, es ging gefühlt los mit Armin Laschet, der Gründonnerstagabend ankündigte, es müssten nun alle „gemeinsam über Ostern nachdenken“, was danach werden solle.
Und mit Laschet hat es dann auch geendet, als er am Ostermontag als Denkergebnis den „Brückenlockdown“präsentiert. „Was für ein Elend!“zürnt es aus dem Hörer – selten war „Anrufer“ein so treffendes Wort – „dass Pandemie und Kanzlersuche der Union zusammentreffen!“. Und weil es so offensichtlich mehr um persönliche Karrieren gehe als um das, was fürs Land richtig sei, sei dies die Kündigung staatsbürgerlicher Duldsamkeit. Fehlt nur noch der Knall eines auf die Gabel geworfenen Hörers.
Selbstverständlich wird im Jahr 2021 mobil telefoniert; also ohne Gabeln und Hörer. Der Anrufer ist inzwischen als ein Freund identifiziert von durchschnittlichem Politikinteresse. Sein Zorn über die fehlende Pandemiestrategie schwelt schon eine Weile; nun lässt ihn die Stuttgarter Polizei lodern, die am Karsamstag mehr als 10 000 „Querdenken“-Demonstranten alle Regeln hat ignorieren lassen. „Wie sollen wir der Bevölkerung erklären“, fragt ratlos Baden-Württembergs grün geführtes Gesundheitsministerium via Twitter, „dass sich an Ostern nur fünf Menschen aus zwei Haushalten treffen dürfen, während Tausende Demonstranten ohne Maske und
Mindestabstand durch die Stadt ziehen.“Prompt antwortet der Sprecher der schwarz regierten Stadt, Sven Matis: „Wie sollen wir der Bevölkerung erklären, dass die Landesverordnung ausdrücklich Versammlungen von Beschränkungen ausnimmt?“
Wer soll das verstehen? Und wer, dass Laschet einen schnellen und harten Lockdown in Rede bringt – und zeitgleich sein CDUParteifreund und Ministerpräsidentenkollege im Saarland, Tobias Hans, bei steigender Inzidenz eine landesweite Öffnungsstrategie fährt? „Komplett schizophrene Signale“erkennt Karl Lauterbach, der omnipräsente Corona-Experte der SPD.
Systemversagen
Zusammengezählt ist die Lage nach gut einem Jahr Pandemie verfahren. Genau genommen müsste es, entgegen aller Grammatik, heißen: verfahrener denn je. Die Glaubwürdigkeit der Politik ist auf Tiefststand. Die Kakophonie der Regierenden bei ihren Treffen – und erst recht danach – schürt Verdrossenheit und Misstrauen. Und dazu kommen persönliche Erfahrungen mit offensichtlichem Systemversagen. In Bayern bleiben an den Feiertagen die behördlichen Schnellteststationen dicht, in Thüringen die Impfzentren, in Berlin sucht am Gründonnerstagabend ein Impfzentrum verzweifelt Astrazeneca-Impfwillige auf dem Gelände der angrenzenden Teststation – und über Ostern meldet gerade einmal die Hälfte der Gesundheitsämter die aktuellen Infiziertenzahlen.
Dass der Bund fürs gesamte Jahr bislang nur 800 Millionen Schnelltests geordert hat für die 83-Millionen-Bevölkerung; dass die seit Weihnachten in Rede stehenden Tests für Schulen und Kitas bis Ostern lediglich in Ausnahmefällen organisiert sind; dass Berlin wegen fehlenden Nachschubs am Dienstagnachmittag zwei seiner Impfzentren schließt; dass zugleich ein Viertel aller bislang nach Deutschland gelieferten Dosen in großen Zentrallagern gebunkert wird: Das alles klingt nicht nach Strategie – sondern nach Chaos. Was, hätte der wütende Freund am Morgen auch davon gewusst?
Dazu kommen am Dienstag im Stakkato Wortmeldungen zu Laschets „Brückenlockdown“. Bayern fordert „zunächst mehr Klarheit“, Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) findet ihn „vernünftig“, sein niedersächsischer Nachbar Stephan Weil (SPD) hat „erhebliche Zweifel“.
Die quälen ja auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). An der Wirtschaft und ihrem Willen zur Pandemiebekämpfung. Obwohl sie „Enthusiamus“beim Testen vermisst, hat Merkel Geduld bis in den April zugesagt. Nun berichtet die SPD-nahe Hans-Böckler-Stiftung, in der zweiten März-Hälfte seien gerade mal 23 Prozent der Präsenzbeschäftigten mindestens einmal wöchentlich getestet worden. Die Spitzenverbände der Wirtschaft schreiben fast zeitgleich der Kanzlerin: „Zwischen 80 und 90 Prozent der deutschen Unternehmen testen oder bereiten den Teststart unmittelbar vor.“
Der Zürnende ruft am Morgen, er lasse sich nicht weiter ver… – dann folgen sieben nicht zitable Buchstaben. Kurz darauf soll Laschet im Frühstücksfernsehen den „Brückenlockdown“erläutern – und sagt tatsächlich, der sei „so etwas Ähnliches“wie die „Osterruhe“. Die sich als mitternächtliche Schnapsidee entpuppt hat. Die Kanzlerin hat um Pardon gebeten! Wer weiß, womit der Mittwoch beginnt. Und nein: Tun kann man gerade überhaupt nichts.
Die Kakophonie der Regierenden bei ihren Treffen – und erst recht danach – schürt Verdrossenheit und Misstrauen.